Der grösste Fussballer hat die Welt für immer verlassen

Der Tod des Jahrhundertfussballers war der traurige Schlusspunkt des Jahres 2022. Wie ein Sohn aus ärmlichsten Verhältnissen den Sport revolutionierte. Ein persönlicher Nachruf.

Geboren wurde er am 23. Oktober 1940 als Edson Arantes do Nascimento in Três Corações, einem Ort in der brasilianischen Provinz. Sein erstes Geld verdiente er als Schuhputzer – 15 Dollar pro Monat. Als „Pelé“ avancierte er in den 1950-er Jahren zum vielleicht berühmtesten Sportler der Erde. Sein erster Profivertrag beim FC Santos hatte ihm 200 Dollar pro Monat eingetragen.

Als ich ihm 2013 am Rande der Gruppenauslosung zur WM-Endrunde 2014 in Brasilien in einem Ferienressort in Salvador de Bahia  für ein Interview gegenüber sass, fragte ich ihn – wie ich ihn Anreden dürfe. Schliesslich verlangt sein Übername „O Rei“ (der König) eigentlich einen Adelstitel. Pelé aber sagte – und das obwohl eine Portugiesisch-Dolmetscherin daneben stand – in gutem Englisch: „Bitte nenn mich einfach Pelé – Pé heisst auf Portugiesisch Fuss. Daraus hat mein Vater den Namen abgeleitet. Dabei war ich so stolz, dass ich Edson getauft wurde – benannt nach Thomas Edison, dem Erfinder der Glühbirne. Als ich auf die Welt kam, leuchteten in den brasilianischen Bergwerken die ersten elektrischen Lampen. Aus diesem Grund nannten mich meine Eltern Edison. Das i ist in der Geburtsurkunde allerdings verloren gegangen. Aber heute kann ich bestens mit Pelé leben.“

Wir lachten – so wie wir in der folgenden Stunde noch einige Mal herzhaft lachen sollten. Abgemacht war ein Gespräch von 20 Minuten Dauer. Aber Pelé hatte offenbar Lust und Zeit, auf die Fragen des Schweizer Journalisten einzugehen. Ich spürte schnell: Vor mir sass ein Mann, der mit sich und der Welt im Reinen war – dessen grössten Erfolge zwar schon Jahrzehnte zurücklagen, der die Leichtigkeit, Grandezza, Verspieltheit und Lebensfreude aber auch mit 73 Jahren noch auslebte, als habe er soeben Brasilien zum WM-Titel geführt.

Pelé setzte als Fussballer Massstäbe, die bis heute unerreicht blieben: 1363 Spiele, 1281 Tore, als einziger Spieler der Geschichte dreifacher Weltmeister. 26 Titel in 17 Jahren. Als er 1958 in Schweden seinen ersten WM-Titel gewann, war er 17 Jahre jung – und tauchte das Turnier mit seinen Finten und Toren in einen zauberhaften Glanz. Als er zwölf Jahre später in Mexiko die Jules-Rimet-Trophäe das dritte Mal in die Höhe stemmte, hatte ihn vor dem Turnier niemand mehr auf der Rechnung gehabt – doch wiederum wurde er zur überragenden Figur seiner Mannshaft.

Pelé besass technische Qualitäten, wie man sie zuvor im Fussball noch nie gesehen hatte – und er hatte eine Ausstrahlung, die ihn weit über die Grenzen des Sports zu einem Vorbild machte. Und obwohl er praktisch im Jahresrhythmus Angebote aus den europäischen Topliegen erhielt, blieb er „seinem“ FC Santos (in São  Paolo) immer treu – wenn auch nicht ganz freiwillig. In Brasilien war er quasi zum unverkäuflichen Nationalheiligtum erklärt worden. Erst im Herbst der Karriere zog es ihn für zwei Jahre nach New York zu Cosmos. In besagtem Interview fragte ich ihn damals, weshalb er nie  nach Europa gewechselt hatte. Seine Antwort: „Für mich war Santos immer die beste Wahl – sportlich und atmosphärisch. Ich hätte zwar bei Real Madrid viel mehr Geld verdienen können, aber das zählte für mich nicht.  Ich wollte dort spielen, wo ich mich wohl fühle und das Umfeld am besten stimmt.“

Die Diskussion über den grössten Fussballer der Geschichte ist ebenso alt wie umstritten. Eine verbindliche Antwort lässt sich selbst in einer basisdemokratischen Abstimmung nicht generieren. Sie wird jedes Jahr wieder aufgeworfen – auch 2022 nach der WM in Katar: Messi oder Mbappé? Auf die Frage, welcher heutige Spieler am ehesten mit ihm zu vergleichen sei, sagte Pelé: „Von der Rolle, die er in seiner Mannschaft spielt, kommt Messi meiner Spielweise am nächsten.“

Letztlich ist die Antwort nur eine Momentaufnahme im grossen Kontext. Die FIFA legte sich fest und kürte Pelé zum „Weltfussballer des 20. Jahrhunderts“. Das Internationale Olympische Komitee ging noch einen Schritt weiter und ernannte den brasilianischen Ausnahmekönner zum „Sportler des Jahrhunderts“.

Günter Netzer, der prägende Stilikone der deutschen Fussball-Geschichte, sagt über Pelé: „Er war der beste – ohne Wenn und Aber. Seine Lebensgeschichte ist herausragend, seine Erscheinung, seine Ausstrahlung. Er wurde aus den kleinsten Anfängen und bescheidensten Verhältnissen in die Welt katapultiert, aber hat sich den Herausforderungen immer gestellt. Sein Status entsprach demjenigen von Cristiano Ronaldo heute. Aber Pelé trafen die öffentlichen Begehrlichkeiten und das globale Interesse praktisch ohne Vorwarnung und Vorbereitung. Trotzdem hat sich Pelé nie verändert. Er hat sein Leben so geführt, wie er es immer geführt hatte, blieb sich selber treu und ist immer ehrlich, menschlich und bescheiden geblieben.“

Besser kann man Edson Arantes do Nascimento nicht beschreiben – und die Worte Netzers decken sich mit dem Eindruck von jenem Menschen,  den ich vor neun Jahren in Brasilien kennenlernen durfte. Drei Jahre später traf ich Pelé nochmals – am Vorabend der Euro 2016 in Frankreich. Er war damals an einem PR-Event mit Diego Maradona die grosse Attraktion. Pelé und Maradona – die  beiden trennten 20 Jahre Alter, aber auch sonst ganze Welten. Maradona war ein Schatten seiner besten Tage: aufgedunsen, verlebt – irgendwie grün und gelb im Gesicht. Die Fans jubelten ihm zu, doch das Leben hatte ihn längst im Abseits zurückgelassen.

Dagegen strahlte Pelé etwas Staatsmännisches und Würdevolles aus. Er ging nach einer Hüftoperation an Krücken. Aber er war noch immer der, der er schon 1970 nach dem WM-Final 1970 gegen Italien in Mexiko gewesen war: der König. Ohne Wenn und Aber.

Daran muss ich heute mehr denn je denken. Mit Pelé verliert der Fussball seinen vielleicht grössten Könner der Geschichte. Und die Welt verliert eine Persönlichkeit, die auch den nächsten Generationen als grosses Vorbild dienen kann. Lieber Pelé, die Welt verneigt sich vor Dir und Deinem Lebenswerk.

Frühlingsgefühle im Herbst

Rolf Knie lädt in seiner Galerie in Rapperswil-Jona zur Vernissage – und verbreitet mit seinen neuen Bildern Farbe, Freude und Fröhlichkeit.

«Kunst kommt von Können. Käme es von Wollen, hiesse es Wulst.» Die Worte des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche kommen einem unweigerlich in den Sinn, wenn man durch die neue Ausstellung von Rolf Knie in dessen Galerie an der Rütistrasse in Rapperswil-Jona schreitet.

Der Universalkünstler ist auch mit 73 Jahren noch voller postjuvenilem Tatendrang und offenbar von mehreren Musen geküsst – darunter ganz sicher seine Ehefrau Belinha. Er besitzt den exakten Pinselstrich und das perfekte Auge für die Perspektive. Als er seine Freunde und Gäste am Samstag zur Vernissage empfängt, sagt er nicht ohne Stolz: «Ich darf heute dreissig neue Bilder präsentieren – vorwiegend Tier- und Zirkussujets.»

So farbenfroh und vielschichtig wie die gezeigten Werke ist auch das Publikum: die Luzerner Nationalrätin Yvette Estermann, Verleger Bruno Hug oder Eishockeylegende Morgan Samuelsson. Der Schwede gibt zu, dass er ein «Kunstbanause» sei. Umso enthusiastischer gibt sich Schwiegermutter Eva Vandenbrouck: «Ich liebe die Farben und den Ausdruck in Knies Bildern.»

Eventmanager Gerard Jenni outet sich als «glücklicher Besitzer» von mehreren Knie-Exponaten, der Schwyzer Ständerat Alex Kuprecht empfindet die Bilder als «wohltuenden Farbtupfer in schwierigen Zeiten» und Sängerin Monique erzählt bestens gelaunt, dass sie schon als Kind in Ostermundigen auf den Circus Knie gewartet habe, «um dann die Tiere vom Bahnhof zum Wankdorf-Areal zu begleiten.»

So ist die Eröffnung der Ausstellung wie ein grosses Familientreffen – an dem bald schon die Mehrheit der Bilder verkauft oder reserviert ist. Rolf Knie, unrasiert, aber charmant und galant wie als Teenager, kommt ins Philosophieren: «Ich hatte nie Zeit, zu verlieren. Denn Zeit ist für einen bildenden Künstler der grösste Feind. Er kann arbeiten und schöpferisch tätig sein bis er umfällt.» Talent und Inspiration allein genügen für eine erfolgreiche Laufbahn als Künstler bei weitem nicht. Disziplin und Wille, aus den Veranlagungen etwas zu machen und sich stetig zu verbessern, seien ebenso wichtig, sagt der Meister – und hält es mit Konfuzius: «Der Weg ist das Ziel».

Die Besucher seiner Vernissage applaudieren, stossen an und sind sich beim Verlassen der Galerie sicher: Rolf Knie hat den richtigen Weg gefunden. Definitiv.


https://linth24.ch/articles/162300-fruehlingsgefuehle-im-herbst


Thomas Renggli neuer Chefredaktor von Linth24

Linth24 hat einen neuen Chefredaktor: Per sofort übernimmt Thomas Renggli die redaktionelle Verantwortung für das Online-Portal.

Linth24 hat mit Thomas Renggli einen neuen Chefredaktor. Der 50-jährige Journalist und Autor bezeichnet sich als „Schreiber aus Leidenschaft“. Er arbeitete als Redaktor für die Neue Zürcher Zeitung und als Kolumnist und Reporter für die Weltwoche, die Schweizer Illustrierte und den Blick. Danach war er als freier Journalist, Buchautor und Besitzer der Kommunikationsagentur „RenggliText“ tätig. Ausserdem ist Renggli Autor von diversen Büchern. Unter anderem hat er die Bestseller „Rodriguez – drei Brüder, eine Familie“, „Bernhard Russi – der ewige Olympiasieger“, „100 Jahre Knie – die Schweizer Zirkusdynastie“ und „Hans Imholz, der Reisepionier“ verfasst.

Thomas Renggli wird als Chefredaktor von Linth24 tätig sein, aber auch die übergreifende Redaktionsleitung aller 17 im Verbund von Portal24 (www.portal24.ch) agierenden Online-Portale übernehmen. Ausserdem ist er für die Etablierung von weiteren Plattformen zuständig.

Zu seinem Engagement im Verlag von Linth24 sagt er: „Der weitere Aufbau des Verbundes von lokalen Onlineplattformen in der ganzen Schweiz ist eine der interessantesten Aufgaben im heutigen Journalismus. Ich freue mich sehr, Teil dieses ambitiösen Unternehmens sein zu dürfen.“

Renggli übernimmt die Nachfolge des bisherigen Chefredaktors Rolf Lutz. Linth24 dankt Rolf für sein grosses Engagement und wünscht ihm alles Gute. Rolf Lutz wird weiterhin als freier Mitarbeiter für Linth24 tätig sein.

Linth24

https://linth24.ch/articles/161506-thomas-renggli-neuer-chefredaktor-von-linth24?campaign=app


Trauer in der grössten britischen Enklave der Schweiz

Im Winter geht es im halsbrecherischen Tempo talwärts. Nun herrscht leise Trauer. Über dem Cresta Run in St. Moritz wehrt die britische Fahne auf Halbmast.

Der Tobogganing Club in St. Moritz, die Vereinigung der Skeleton-Fahrer, ist die grösste britische Enklave der Schweiz. Im Klubhaus ist alles „very british“, getrunken wird feiner Single Malt, gesprochen im noblen Oxford-English. Rund die Hälfte der 1240 Mitglieder stammt aus dem Vereinigten Königreich  – darunter Präsident James Sunley und CEO Martin Greenland. Als Schirmherrin des Vereins waltet Duchess Sophie, Countess of Wessex, Ehefrau von Prinz Edward.

Entsprechend hat der Tod von Queen Elizabeth II auch im Engadin tiefe Bestürzung ausgelöst. Martin Greenland sagt: „Die Queen hat unser Land geführt und geeint, ohne dass sie politische Macht besass. Sie hinterlässt eine grosse Lücke.“ Persönlich traf Greenland die Queen zweimal – als er in seiner Jugend im schottischen Morayshire dieselbe Schule besuchte wie Prinz Andrew. Auf die Frage, ob er bei dieser Gelegenheit mit der Monarchin gesprochen habe, antwortet er lächelnd: „Mit einer Königin spricht man nicht – man wartet, bis man von ihr angesprochen wird.“

Ansonsten sind die Mitglieder des Tobogganing Clubs weniger zurückhaltend. Ihr Hobby ist die rasante Schussfahrt durch den Cresta Run. Dabei handelt es sich um die schnellste Verbindung zwischen St. Moritz und Celerina. Rekord: 49,92 Sekunden – aufgestellt 2015 vom irischen Baron Clifton Hugh Lancelot de Verdon Wrottesley und mit Dutzenden Flaschen Whisky begossen. Die Rhätische Bahn braucht weniger Sprit, aber vier Minuten und 50 Sekunden länger. Die spektakulärste Kurve des Cresta Run heisst „Shuttlecock Corner“ (Federballecke). Dort fliegt laut Statistik jeder 14. Fahrer ins vorsorglich aufgeschichtete Stroh und darf deshalb Member of de honorable Shuttlecock Club werden und die Shuttlecock-Krawatte tragen.

Sogar die Londoner „Times“ berichtete schon über die Events, obwohl nicht immer ein Brite siegt. Zwischen 1948 und 1986 gewann der St. Moritzer Gemüsehändler Nino Bibbia 232 Mal. Sein schärfster Rivale kam auf 36 Erfolge. Er war Engländer wie, of course, alle Tobogganing-Chairmen.

So weht über dem Cresta Run der britische Geist. Dies ist in diesen Tagen trotz Sommerpause am Klubhaus besonders deutlich sichtbar: Nach dem Tod der Queen wurde der Union Jack umgehend auf Halbmast gesetzt.

Joel I. – der König des Volkes

Der neue Schwingerkönig Joel Wicki, 25, ist ein Mann mit Bodenhaftung und Demut. Zuhause in Sörenberg feiert er mit Familie, Freundin – und seinem Lieblingsbundesrat.

Text: Thomas Renggli

Flühli-Sörenberg. Die flächengrösste Gemeinde des Kantons Luzern ist im Sommer ein beschaulicher Fleck Erde. Normalerweise. Der Triumph von Joel Wicki am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest hat den 2000-Seelen-Ort aus dem Sommerschlaf gerissen. Gemeindepräsidentin Hella Schnider ist diese Woche an allen Fronten gefordert: „Seit Sonntag herrscht der Ausnahmezustand.“ Die Bäuerin muss für den Empfang am Mittwoch den Gemeinderat eiligst zum OK umfunktionieren. Rund 5000 Besucher strömen in den Ort – darunter Ueli Maurer der höchste Schwinger-Fan des Landes und „Lieblings-Bundesrat“ des neuen Königs – und weitere Luzerner Vertreter(innen) der Bundespolitik (Ständerat Dominik Müller, Nationalrätin Ida Glanzmann).

Über allen aber thront der neue Regent der Eidgenossenschaft – Joel I. „Es macht mich stolz, in meiner Heimat von all diesen Menschen derart euphorisch empfangen zu werden. An seiner Seite: Mutter Esther, Vater Herbert, Bruder Kevin und Freundin Alicia. Der Königsempfang besitzt sporthistorische Dimensionen. Joel Wicki ist der erste Innerschweizer auf dem Thron seit 36 Jahren (und erst der zweite insgesamt). Heinrich „Harry“ Knüsel, der Sieger von 1986, hat endlich einen Nachfolger gefunden.

Doch der Weg zum Ziel war lang und beschwerlich. Als Kind deutete wenig darauf hin, dass Joel je ein ganz Böser wird. Mit sieben Jahren litt er an einer heimtückischen Virusinfektion, die Lähmungserscheinungen provozierte und einiges in Frage stellte. Klein Joel lag wochenlang im Spital und musste starke Schmerzmittel schlucken. Schliesslich kam er aber wieder auf die Beine – ohne allerdings zu einem Hünen heranzuwachsen. Im Gegenteil: Der Schwingsport, den er durch seinen Vater und Bruder kennen und lieben lernte, schien ihm eine Nummer zu gross: „Da muss zuerst noch etwas Dünger in die Schuhe“, pflegte der Schulleiter in Sörenberg, Guido Bucher, zu sagen. Heute ist Bucher Mediensprecher des Innerschweizer Schwinger-Verbands und mächtig stolz auf seinen ehemals leichtgewichtigen Schüler: „Seine Leistung in Pratteln war grandios.“ Fast noch mehr freut sich der Pädagoge darüber, dass Wicki „noch genauso tickt wie früher“: „Er liebt Tiere und die Natur. Und er ist grundehrlich – und braucht die Öffentlichkeit eigentlich nicht.“ Schon in seiner Kindheit sei dies so gewesen: „Joel liebte das Schwingen immer. Im Scheinwerferlicht aber wollte er nie stehen.“

Das betrifft auch die Momente seiner persönlichen Schicksalsschläge. 2013 wurde sein Vorbild und Schwinger-Kamerad Benno Studer bei einem Amoklauf in einer Schreinerei in Menznau erschossen. Darauf angesprochen, wird Wicki nachdenklich: „Jedes Mal wenn ich durch Menznau fahre, beginnt mich Bennos Schicksal von neuem zu beschäftigen.“ 2016 erkrankte sein Vater an Darmkrebs – und kämpfte sich dank Frühbefund und Chemotherapie ins Leben zurück.

Es sind jene Ereignisse, die Joel Wicki demütig werden lassen – und ihm vor Augen führen, dass der Sport nicht alles ist – dass die Niederlage im Schlussgang des Eidgenössischen 2019 ebenso nur ein kurzer Dämpfer war wie der knapp verpasste Sieg am Unspunnen-Fest 2017. „Es ist schön, der König der Herzen zu sein“, sagte er damals. So war es ernstgemeint, als er am Sonntag nach dem Gewinn des Königstitels angekündigte: „Am Montag gehe ich ganz normal auf den Bauernhof und arbeite mit den Kühen. Am Mittwoch müssen schliesslich die fremden Gusti zu ihren Besitzern zurück. Und es bedeutet mir sehr viel, sie würdig zu verabschieden. “ Da hatte er allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht – beziehungsweise ohne die Medien. Anstatt zu heuen und zu misten, musste Joel Wicki Fernseh-, Radio- und Zeitungsinterview im Halbstundentakt geben. „Das gehört halt dazu“, sagt er mit royaler Gelassenheit im Hotel Rischli in Sörenberg.

Die Ruhe, die der neue König verströmt, wirkt in diesen oft überhitzten Zeiten wie ein Wink mit dem Zaunpfahl – und kann dem Schwingen neue Sympathien einbringen. Zwar vertraut auch Wicki den Diensten eines Managers, gleichzeitig sagt er aber: „Das wichtigste ist mir mein persönliches Umfeld – meine Eltern, mein Bruder und meine Freundin. Und mein Kindheitstraum ist es, einen eigenen Bauernhof zu führen.“ Dafür möchte er gerne allfällige Mehreinamen investieren: „Es macht mich glücklich, ein schönes Zuhause zu haben. Das gibt einem ein Gefühl der Sicherheit.“ Auch sei es in einem Sport wie Schwingen vernünftig gewisse Reserven anzulegen: „Man weiss nie, was medizinisch noch auf einen zukommt.“ 

Es sind leise Worte, die gerade bei den Traditionalisten gut ankommen – die bei Wicki absolut glaubhaft tönen. Zwar hat der Mann in den vergangenen Jahren ein erstaunliches Medienbewusstsein und eine bemerkenswerte Abgeklärtheit entwickelt, dennoch wirkt er noch wie jener kleine Schüler, von dem Primarlehrer Bucher liebevoll sagt: „Er war kein Engeli, aber konnte immer zwischen richtig und falsch unterschieden.“

Im Sägemehl machte er am vergangenen Wochenende alles richtig – und bestätigte damit den Eindruck der gesamten Saison. Im Jahr 2022 verlor Wicki nur drei Gänge. In Pratteln war er der konstanteste und technisch beste Schwinger. Dass der entscheidende Schwung im Schlussgang von gewissen Fachleuten als nicht regulär eingestuft wurde, nervt ihn: „In unserem Sport entscheiden oft Sekundenbruchteile und Zentimeter. Zwei Meinungen sind in vielen Fällen zulässig.“

So oder so: Der gelernte Baumaschinenmechaniker, der sich derzeit in der Ausbildung zum Landwirt befindet, verkörpert mit seiner bodenständigen und naturverbundenen Art die Tradition des Schwingens wie kaum ein Zweiter. Und auch das Entlebuch hat in ihm den perfekten Botschafter gefunden. Hella Schnider, seit zwei Jahren Gemeindepräsidentin von Flühli-Sörenberg, sagt nicht ohne Stolz: „Wenn man sich einen typischen Entlebucher vorstellen will, könnte es genau Joel Wicki sein. Er ist bodenständig, respektvoll und bescheiden. Und er liebt die Landwirtschaft.“

Thedy Waser, seit neun Jahren technischer Leiter des Innerschweizer Schwinger-Verbands, betont derweil die sportliche Bedeutung von Wickis Sieg für die ganze Region: „Der Erfolg von Joel wird unserem Sport in der Innerschweiz enormen Schub geben. Nun haben die Jungen endlich wieder ein Vorbild, das ihnen zeigt, was alles möglich ist.“ Waser vergleicht Wicki mit dem Nidwaldner Marco Odermatt, dem derzeit komplettesten Schweizer Skifahrer: „Marcos Erfolge haben bei uns einen regelrechten Ski-Boom ausgelöst. Bei Joel  wird dies im Schwingen ähnlich sein.“

Tatsächlich: In Sörenberg säumen Transparente auf praktisch jedem Meter die Strasse durchs Tal: „Sackstark Joel“- „Joel – Wir gratulieren Dir zu deinem tollen Erfolg“, „Herzlichen Glückwunsch Joel“. Und in der lokalen Volg-Filiale, wo normalerweise die Königsmutter Esther Wicki an der Kasse sitzt, wird die schwarzen Aktionstafeln kurzfristig zur Glückwunschbotschaft umfunktioniert: „Bravo König Joel – mer gratulierend ganz herzlich.“ Am Mittwoch schliesslich folgt die Zugabe für den Gekrönten. Es ist ein wahrlich majestätischer Anlass. Und er machte deutlich: Joel Wicki ist nicht nur der König in seinem Dorf. Er vertritt die ganze Innerschweiz – und hat das historische Zentrum des Schwingens aus einer 36-jährigen Lethargie befreit.

Walter J. Scheibli

Freitag, der 13. Bei der Lektüre des „Tages Anzeigers“ stockte mir der Atem. Unter den Traueranzeigen steht ein Name, den ich nie an dieser Stelle sehen wollte – der mit so viel Leben gefüllt war, dass die Nachricht des Ablebens schon fast surreal tönt: „Walter J. Scheibli – 5. März 1959 – 10. Mai 2022“. 63 Jahre – nur. Wir wussten, dass es ihm nicht gut geht. Und trotzdem macht sein Tod sprachlos.

Als ich Walti vor rund 30 Jahren kennenlernte, begegneten wir uns vor allem an zwei Orten – an zwei Orten, die für sein Leben eine prägende Bedeutung besassen: Auf den Pressetribünen von Hardturm, Schluefweg, Hallenstadion und Letzigrund – und am Mittwochmittag jeweils in der Turnhalle Sihlhölzli. Dort rannten jene Sportjournalisten ihrer verlorenen Jugend nach, die für sich eigentlich einen Platz in der Fussballnationalmannschaft einforderten, aber anstatt das Tor vor allem die Schienbeine der Gegner oder die Sprossenwand trafen.

Walti besass diesen Anspruch nicht. Dafür war er zu bescheiden und bodenständig – und vermutlich auch zu realistisch. Obwohl mit gewissen technischen Fähigkeiten gesegnet und quasi der Zico von der Steinkluppe kannte er seine fussballerischen Grenzen ganz genau. Und die lagen bei der letzten Runde im Konditionstest oder bei der  höchsten Intensitätsstufe des Mittelfeldpressings. Walti war ein Fussballer mit Herzblut und Leidenschaft, aber die dritte Halbzeit fand für ihn neben dem Platz statt – dort, wo es gesellig wird und die verbalen Ausführungen grösser sind als die Taten im Spiel davor.

Als Radioreporter gehörte Walter J. Scheibli zu den Besten des Landes. Wie sein Vater war er stets einer der ersten im Stadion und akribisch vorbereitet. Gab es Kollegen, die sich erst an der Pressekonferenz vor dem Spiel über die Personalsituation erkundigten, wusste Walti immer Bescheid. Und er kommentierte punktgenau und ohne Versprecher. Ich fragte mich immer wieder, weshalb er nie den Schritt zur SRG machte. Auf einen Fachmann wie Walter J. Scheibli darf eigentlich kein nationaler Sender verzichten. Aber auch in diesem Fall gilt: Walti nahm sich nie zu wichtig. Radio 24 war der perfekte Ort für ihn. Hier konnte er sein Hobby als Beruf ausleben, gleichzeitig noch für den „Unterländer“ schreiben – und so viel Unabhängigkeit bewahren, dass er nicht jeden Morgen um 8.30 Uhr einem Chef rapportieren musste.

Walti war ein Mann der sportlichen Underdogs. Den FC Unterstrass gab es für ihn auch im Ausland. In Deutschland schlug sein Herz für 1860 München – in England kokettierte er mit Millwall – jenem Klub aus den Londoner Docklands, der die Arbeiterklasse wie kein anderer Verein symbolisiert und schon die Qualifikation für einen Sechzehntel-Final des Liga-Cups wie Weihnachten, Geburtstag und Ostern zusammen feiert.

Walter J. Scheibli war ein Zürcher durch und durch. Dazu gehörte, dass er sich (im Gegensatz zu seinem Vater) nie auf einen Klub fixieren wollte. Er freute sich für den FCZ wie für GC – bejubelte die Siege von Kloten ebenso wie jene des ZSC. Und er war auch bereit, wenn es einen Fachmann für Handball oder die 100-Kilometer-Américain am Sechstagerennen brauchte. Walter J. Scheibli gehörte der immer rareren Spezies der journalistischen Generalisten an.

Vor allem aber war er ein wunderbarer Kollege und ein guter Freund – mit einem herrlichen Sinn für (englischen) Humor. Mit kaum einem konnte man herzhafter Lachen und die Spiele an der Theke genüsslicher Revue passieren lassen. Spätestens nach dem zweiten Bier mit Walti war man sich wieder sicher: Der Sport ist die schönste Nebensache – aber er ist eben doch nur eine Nebensache. Das änderte sich höchstens, wenn die englische Nationalmannschaft ein Penaltyschiessen gegen Deutschland verlor.

Walter J. Scheibli liebte das Leben und seine lockeren Seiten – und er war immer ein geselliger und unterhaltsamer Gesprächspartner. Doch er war auch eine ernsthafte und sehr sensible Persönlichkeit. Das realisierten wir vielleicht zu spät. Als sich kurz nach Weihnachten 2018 seine Mutter Margrit in die Ewigkeit verabschiedete, ging auch ein Teil von ihm. Sein Familiengefühl war so gross, dass er den Tod seiner Mutter nie verkraftete. Immer seltener kam er in die Stadien, sein Lächeln schien wie eingefroren. Die Fröhlichkeit, die seinen Vater Walter Scheibli bis heute umgibt, kehrte beim Junior nie mehr zurück.

Am 10. Mai endete sein irdisches Dasein – auch weil es Walti vermutlich so wollte. Er hinterlässt tief betroffene Freunde und eine grosse Lücke im Sportjournalismus – aber auch die Hoffnung, dass es ihm jetzt besser geht: dort, wo die Engel zwischen den Sternen einem Ball oder einem Puck nachjagen; dort wo auch seine Mutter einen Tribünenplatz hat.

Lieber Walti – wir werden Dich nie nie vergessen. Und wir sehen uns wieder! Ruhe in Frieden.

Thomas Renggli

Ein Tennisspiel für die Geschichtsbücher

Rafael Nadal triumphiert in Melbourne nach epischem Kampf und stellt Roger Federer und Novak Djokovic in den Schatten. Hoch lebe der neue Tennis-König!

11‘000 Zuschauer in der Rod-Laver-Arena in Melbourne stehen auf ihren Sitzen. Ihr Jubel und Applaus lässt die Wände erbeben. Das Turnier, das während dreier Wochen vom Einreiseskandal um Novak Djokovic überschattet war, endet mit dem krönenden Höhepunkt – dem verdienten sportlichen Höhepunkt. Rafael Nadal, der 35-jährige Spanier aus Mallorca, der aufgrund seines Kraft- und Verschleiss-Tennis schon oft abgeschrieben wurde und noch vor zwei Monaten um die Fortsetzung seiner Karriere bangte, liefert sich mit dem zehn Jahre jüngeren Russen Daniil Medwedew einen epischen Kampf.

Nadal macht einen Zweisatzrückstand wett, führt im fünften Satz nach über fünf Stunden zweimal mit Break und ist nur noch zwei Punkte vom Sieg entfernt. Der Russe wehrt sich erbittert, ist mehrmals nur Zentimeter von der Wende entfernt. Doch Nadal hat sich im Stile eines Bullterriers in Partie und Gegner reingebissen. Und er lässt nicht mehr los. Nach fünf Stunden und 25 Minuten sinkt er auf die Knie, schreit seine Freude in die Nacht hinaus – und schreibt Geschichte: 21. Grand-Slam-Turnier hat Rafael Nadal jetzt gewonnen – einen Titel mehr als Roger Federer und Novak Djokovic. Und seine Dominanz könnte sich noch akzentuieren. Denn das nächste Grand-Slam-Turnier findet auf dem Sand von Roland Garros statt. Es ist quasi das Wohnzimmer des spanischen Tennis-Königs.

Thomas Renggli

„Die Schweiz hat uns mit offenen Armen empfangen“

Gipfel der Kulturen. Am SI-Stammtisch in Freiburg unterhalten sich Bundespräsident Guy Parmelin, Stiftungsgründerin Sonja Dinner und Eishockeystar Slawa Bykow über Integration, Covid und die Zweisprachigkeit. Der gebürtige Russe Bykow sagt, weshalb er sich heute auch als Schweizer fühlt.

Text: Thomas Renggli Fotos: Kurt Reichenbach

Die Pinte de Trois Canards liegt im Galterntal (im Vallé du Gottéron), einem mystischen und sagenumwobenen Ort. Das Sonnenlicht berührt den Talboden hier kaum. Schroffe Felswände zeigen dem Menschen die natürlichen Grenzen. Der Legende nach soll hier der Drache schlafen, der dem Hockeyclub Gottéron den Namen gegeben und das Feuer der Leidenschaft eingeflösst hat. Doch auch die Gaststätte selber animiert zu Fantasien und Fabelerzählungen. Sie erinnert an die Üechtländer Antwort auf das Wirtshaus im Spessart, wo sich Halunken, Wegelagerer und andere dunkle Gestalten verabredeten.

An diesem Montag trifft sich im Trois Canards anlässlich des achten Stammtisches von SI/Illustré eine hochrespektable Runde. Bundespräsident Guy Parmelin, 61, Eishockeylegende Slawa Bykow, 61, der Freiburger Staatsratspräsident Jean-François Steiert, 60, Sonja Dinner, 58, von der Stiftung Dear Solidarité Suisse, der 25-jährige Geschichtsstudent Jakob Spengler (Schmitten) sowie die Studentinnen der Medien- und Kommunikationswissenschaft Lisa Willener (19, Homberg) und Anic Marchand (21, Villars sur Glâne).

SI-Co-Chefredaktor Werner De Schepper übernimmt die Gesprächsleitung – wie es sich hart am Röschtigraben gehört bilingue. Gekonnt spielte er den ersten Steilpass – mit der Bemerkung, dass Steiert der verständlichkeitshalber bitte nicht Senslerdeutsch sprechen soll.

Monsieur Bundespräsident Parmelin, was haben Sie heute Morgen gemacht?

Parmelin: Ich bin aus meinem Heimtatort Bursins nah Bern gefahren und ins Büro gekommen. Wir hatten die gewohnte Montagmorgensitzung, an der wir das Wochenende Revue passieren lassen und auf die kommende Woche vorausblicken. Dann folgte ein Sitzung des Bundesamts für Landwirtschaft, an der wir verschiedene Dossiers behandelten und das weitere Vorgehen besprachen. Ausserdem fand das erste Vorbereitungsmeeting für die Bundesratssitzung vom Mittwoch statt. Da haben wir die Themen jeweils in verschiedene Prioritätenlisten sortiert – die orange, mit den Dossiers, bei denen keine besonderen Probleme bestehen; die weisse Liste, mit Themen, die man intensiver diskutieren muss, bei denen die Entscheidungsfindung offen ist, und die grüne, bei der es schwierig wird.

Gibt es ein wichtiges Dossier, das die Studenten betrifft?

Vielleicht nicht die Studenten direkt, aber Themen, die sich generell um die Zukunftsgestaltung drehen. Beispielsweise behandeln wir die Sozialversicherungen – und die Frage, wie in Zukunft mit dieser Thematik umzugehen ist. Da nehmen wir Vorschläge auf, besprechen Eckpunkte und stellen uns die Frage, wie wir eine Botschaft formulieren, die dann in die Vernehmlassung geht. Und da ist natürlich die allgegenwärtige Corona-Thematik. Grundsätzlich kann ich sagen: Eine Sitzung ohne Covid19 hatten wir wohl seit zwei Jahre nicht mehr – und natürlich wird die Impffrage intensiv besprochen.

Bykow: Ich bin gebürtiger Russe. Und ich habe mich für die Impfung mit Sputnik V entschieden, weil es kein Schweizer Produkt gibt. Es wäre schön, wenn der russische Impfstoff auch in der Schweiz bald akzeptiert wird.

Parmelin: Das ist ein rollender Prozess, der auch mit den europäischen Gesundheitsbehörden zusammenhängt. In der Schweiz akzeptieren wir nur Impfstoffe, die von der europäischen Arzneimittelagentur zugelassen werden. Und das gilt für Sputnik bis jetzt nicht.

Bykow: Aber Russland war bei der Impfstoff-Produktion immer führend. Seit ich ein Kind war, habe ich unzählige Impfungen erhalten – und nie ein Problem damit bekundet. Es ist schwer nachvollziehbar, dass ausgerechnet während dieser Krise die Politik über die Gesundheit gestellt wird.

Steiert: Ich habe mich wie alle Mitglieder der Freiburger Regierung impfen lassen, weil ich der Meinung bin, dass wir nur so aus der Krise kommen. Mein Credo ist: möglichst wenig Zwang und möglichst viele Gelegenheit zum sozialen Austausch. Denn für die Psyche der Menschen ist der soziale Kontakt entscheidend. Grundsätzlich kann man sagen: das Krisenmanagement in Covid-Zeiten ist die permanente Suche nach dem Gleichgewicht zwischen gesellschaftlichen, medizinischen, psychischen und wirtschaftlichen Interessen.

Marchand: Ich habe Mühe mit dem Druck, der ausgeübt wird. Und dieser kommt nicht vom Bundesrat oder von den Behörden, sondern bei uns in Freiburg von der Universität und vom persönlichen Umfeld. Ich bin grundsätzlich bereit, mich impfen zu lassen, aber ich möchte selber entscheiden können, ob und wann ich es tue. Wenn ich den Freiraum hätte, mich zu entscheiden, wäre ich vermutlich schon geimpft. Aber so warte ich noch ab.

Spengler: Ich liess mich schon im Februar impfen, weil ich in einem Altersheim arbeite. Für mich stellte sich die Frage nach dem Freiraum nicht im gleichen Zusammenhang wie bei Anic. Für mich eröffnet die Impfung neue Freiräume.

Willener: Bei mir ist es wie bei Anic. Ich habe Mühe, wenn Druck aufgebaut wird – und man zu etwas gedrängt wird, von dem man nicht überzeugt ist.

Steiert: Es ist immer ein Abwägen. Es geht um die Gewichtung zwischen kollektivem Interesse und persönlicher Freiheit. Dazwischen gibt es nicht nur Weiss und Schwarz. Man führte ähnliche Diskussionen zu anderen Impfungen wie Röteln oder Masern – aber damals wesentlich weniger hitzig. Dazu kommt der soziale Aspekt: Viele Junge sind während der Pandemie depressiv geworden. Gerade, wenn man mit dem Studium beginnt und die Mitkommilitonen nicht treffen kann, fühlen sich viele alleine gelassen. Wir werden noch lange mit den Folgen von Long-Covid zu kämpfen haben – vor allem mit den psychischen Folgen. Aber zurück zur Impfung: Ich bin persönlich vom Impfstoff überzeugt. Wir haben die Richtlinien aber immer so versucht zu legen, dass man sich testen lassen kann, wenn man die Impfung nicht will.

Sonja Dinner, Sie waren ein der ersten, die vor wirtschaftlichen und mentalen Folgen der Pandemie gewarnt hatten…

Dinner: Die Entwicklung hat mich nicht wirklich überrascht. Vielleicht bin ich in dieser Beziehung von meiner internationalen Arbeit geprägt – und den Erfahrungen mit Seuchen wie Dengue-Fieber, Ebola, oder Malaria. Pandemien halten sich nicht an Parteiprogramme. Und bei Covid handelt es sich nicht nur um eine Pandemie. Das Virus hat tausende Gesichter: medizinisch, wirtschaftlich, mental. Meine Sorge war es, dass sich die Schweiz lange nicht erholen wird. Ganz so schlimm ist es nicht gekommen. Beispielsweise im Tourismus haben sich die Menschen angepasst. Viele gehen nun in der Schweiz in die Ferien. In anderen Bereiche wie Gastronomie, Kunst oder Unterhaltung ist eine allmähliche Erholung spürbar. Wiederum andere Branchen aber werden sich nie ganz erholen. Dabei hatten wir noch nie so viel Geld in der Schweiz wie jetzt. Die Solidarität muss noch besser spielen.

Parmelin: Ich bin der Meinung, dass wir den Gedanken der Solidarität in der Schweiz gut ausleben – und die Massnahmen gut dosieren. Beispielsweise waren wir das einzige Land, das die Schulen nur 15 Tage geschlossen hatte. Grundsätzlich geht es immer um individuelle Lösungen. Gewisse Branchen muss man intensiver begleiten als andere. Und die Jungen darf man nicht alleine lassen. Doch die Wirtschaft wird nach Covid nicht mehr die gleiche sein wie vorher. Nehmen wir das Beispiel der Gastronomie. Weil viele Firmen auf Homeoffice setzten, werden die Menschen am Mittag nicht mehr fünfmal pro Woche im Restaurant essen. Wir müssen lernen, mit der neuen Situation umzugehen.

Slawa Bykow, was hat die Pandemie mit dem Sport und mit den Jungen im Sport gemacht?

Bykow:  Für viele junge Mannschaftssportler war es eine traurige Zeit. Das Geschäftsleben kann man digital organisieren. Aber im Sport gibt es kein Homeoffice. Der Sport im Allgemeinen und das Eishockey im Speziellen funktionieren nur im Kollektiv. Nur gemeinsam kommt man ans Ziel. So ist der Sport für mich wie eine positive Droge. Er ist gut für die Gesundheit, er ist gut für Gesellschaft, er ist gut für die Psyche. Aber wenn man nicht mehr mit den Kollegen spielen kann, bleibt vieles auf der Strecke. Der Sport war für mich aber auch immer ein Mittel zur Integration. Vor allem durch das Eishockey habe ich mich in der Schweiz schnell wohl gefühlt – und hier meine zweite Heimat gefunden. Ich bin dankbar, dass mich die Schweiz mit derart offenen Armen empfangen hat. Deshalb möchte ich nun auch etwas zurückgeben.

Willener: Auch für mich ist der Sport sehr wichtig. Ich spiele Unihockey.

Bykow: Das ist grossartig – fast so gut wie Eishockey (lacht).

Willener: Mein Vater hat diesen Sport schon gespielt. Ich spüre auch, dass man von Teamsport kaum mehr loskommt, wenn man diese Erfahrung einmal machen konnte. Als wir während der Pandemie plötzlich nicht mehr gemeinsam trainieren konnten, fehlte das wichtigste. Ich vermisste meine Teamkolleginnen. Wenn man alleine trainieren muss, entfällt die gegenseitige Motivation und die kollektive Freude.

Bykow: Der Effekt, dass man sich gegenseitige Energie vermitteln kann, wird im Sport intensiv spürbar. Und man lernt, Ziele zu fixieren – und sie dann zu erreichen.

Marchand: Wenn wir von Zielen und Lösungen sprechen, möchte ich Herrn Parmelin etwas sagen: Ich habe den grössten Respekt vor dem Bundesrat. Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen machen eine grossartige Arbeit. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken, denn sie müssen unter einem gewaltigen Druck stehen. Mich würde es interessieren, wie sie die Pandemie als private Person erlebt haben.

Parmelin: Als Bundesrat muss man Entscheidungen treffen, die alle angehen. Es ist unglaublich, wie viele Personen plötzlich unsere Medienkonferenzen verfolgen. Neulich wurde ich von einem achtjährigen Mädchen angesprochen, dass sie jede Medienkonferenz anschaut. Im Bundesrat sind wir sieben Personen – mit verschiedenen Meinungen. Wir wollten immer Entscheidungen treffen, die den Menschen schnell helfen und das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Instanzen wahren. Als es um die Kurzarbeit ging, haben wir beispielsweise eine Lösung für die Selbständigen gesucht. Dann kamen die Schausteller – oder die Taxifahrer, die zwar kein Berufsverbot hatten, aber selber auch schwer betroffen waren. Das war dramatisch. Wir erhielten auch viele persönliche Briefe, die das Ausmass der Krise dokumentiert haben. Aber ich glaube auch, dass wir es im internationalen Vergleich nicht so schlecht gemacht haben. Und grossen Dank an Frau Dinner, dass Sie das System mit Ihrer Stiftung komplettieren.

Dinner: Aber trotzdem sind viele Branchen, aber auch Einzelschicksale durch die Maschen gefallen. Deshalb müssen wir die Solidarität weiter fördern. Ich ermutige alle Menschen, flexibel zu sein – und nicht unnötig an Dingen und Mustern festzuhalten. Aber es gibt viele Menschen, die keine Wahl haben – weil sie nicht so einfach einen anderen Beruf lernen können. Da müssen wir als Gesellschaft ein Auffangnetz bieten.

Parmelin: Es gibt viele Einzelschickschale. Das spüren wir auch im Bundesrat. Beispielsweise habe ich ein Mail von einer wütenden Person erhalten, die einen Take-away-Betrieb führt. Der dortige Kanton hat entschieden, dass dieses Unternehmen ab 16 Uhr nicht mehr arbeiten darf – also genau in jener Zeit, in der es die grössten Umsätze macht. Dann habe ich den Kontakt mit dem entsprechenden Kanton aufgenommen – und die Antwort erhalten, dass man den Apero ja auch an einem anderen Ort einnehmen kann. Das ist schwer nachvollziehbar.

Dinner: Wir arbeiten mit Organisationen und Berufs-Verbänden zusammen, die mit Unterstützungsgesuchen an uns gelangen. Zum Beispiel stark betroffenen Berufsgruppen und  Organisationen, die arbeitslose Jugendliche und Über-50-Jährige unterstützen oder allerziehende Väter und Mütter. So haben wir verschiedene Modelle für unterschiedliche Berufsgruppen, die besonders stark betroffen sind.

Steiert: Man muss sich im Krisenmanagement immer an den Kleinen orientieren. Aber man muss auch uns Politiker verstehen. Normalerweise dauern die Entscheidungsprozesse mehrere Jahre. Nun müssen wir innerhalb kurzer Zeit Lösungen finden. Wir müssen als Kantone extrem schnell entscheiden – ohne immer sicher zu sein, dass wir richtig liegen, weil das Wissen zum Teil noch nicht exisitiert. Das ganze Vernehmlassungverfahren, das die Schweizer Kultur pflegt, ist faktisch ausser Kraft. Man hat keine Zeit mehr, mit den Leuten vorgängig zu sprechen. Wenn ich mit dem Velo unterwegs bin, werde ich oft von Menschen angesprochen – und muss auch Fehler eingestehen. In der Pandemie ist in unserer politischen Arbeit viel Präzision verlorengegangen. Früher hatten wir in der Schweizer Politik quasi eine Uhrmacherkultur. Aber heute ist diese oft nicht mehr möglich.

Willener: Herr Bundespräsident. Was mich interessieren würde, ist die Testsituation. Wenn ich in Bern studieren würde, müsste ich für die Tests nicht bezahlen – in Fribourg aber schon. Könnte man dies nicht schweizweit gleich handhaben?

Parmelin: Das ist unser Föderalismus. Der Bundesrat hat entschieden, dass die Tests so lange gratis sind, bis sich alle impfen lassen konnten. Nun haben wir entschieden: entweder Impfung oder bezahlter Test. Denn man kann nicht immer alles auf den Steuerzahler abwälzen. Aber grundsätzlich muss ich sagen: Die Tests können helfen, um aus der Pandemie zu kommen. Aber am Schluss braucht es die Impfung. Und da gibt es in einigen Regionen Nachholbedarf. Heute habe ich beispielsweise gehört, dass im Entlebuch nur 20 Prozent der Bevölkerung geimpft sind.

Wie beurteilen Sie die Stimmung in der Bevölkerung. Gerade die Impffrage wird mit einer unschweizerischen Heftigkeit geführt…

Parmelin: Man darf scharf diskutieren, aber man muss zuhören – und den Anstand wahren. Die Aggressivität, mit der die Debatte an gewissen Orten geführt wird, ist nicht akzeptabel. Denn in der Schweiz besitzt jeder ein Mitspracherecht. Wir können mindestens viermal pro Jahr über alle Themen abstimmen. Ich bin in den sozialen Medien nicht präsent. Aber wenn ich teilweise höre, was dort kommuniziert wird, stimmt mich das nachdenklich. Grundsätzlich bewege ich mich aber noch so frei im wie vor der Pandemie. Und es gibt auch heitere Erlebnisse. Neulich war ich in einem Spital in Avignon – und wurde bei der Registrierung erkannt. Da hat mich der Mann gefragt, ob ich immer noch Bauer sei. Ich habe geantwortet: Nein, ich bin jetzt Bundesrat. Da kam die Frage: Was ist ein Bundesrat?

Bykow: In Russland würde man nie so einfach mit einem Politiker in Kontakt kommen. Unsere Minister sind quasi unberührbar. Dank meinem Status als Nationaltrainer hatte ich aber das Privileg, Vladimir Putin mehrmals zu treffen. Dabei ging es um die Entwicklung im Sport im Allgemeinen und im Eishockey im Speziellen. Es waren immer sehr teamorientierte, konstruktive und produktive Gespräche. Ich bin ihm sehr dankbar, was er für den Sport geleitet hat.

Parmelin: Ich traf ihn am Rande des Gipfels mit Joe Biden in Genf.

Bykow: Was mir an Putin besonders imponiert: Er ist immer sehr gut informiert über seine jeweiligen Gesprächspartner und die Branche, in denen sie sich bewegen. Im Eishockey beispielsweise kennt er alle Details. Und er hat es in unserem Sport noch auf ein akzeptables Niveau gebracht – obwohl er erst mit 50 damit begonnen hat.

Herr Bykow, sie sind seit 2003 Schweizer Staatsbürger. Aber ihre Wurzeln liegen in Russland. Wo möchten Sie alt werden?

Bykow: Wir sind am 4. Juli 1990 in die Schweiz gekommen – fast schon symbolhaft am Tag der amerikanischen Unabhängigkeit. Unsere Kinder Masha und Andrei waren damals 6 und 2 Jahre alt. Sie haben ihre ganze Kindheit und Jugend in der Schweiz verbracht – und leben mittlerweile mit ihren eigenen Familien. Als Eltern ist es unsere Aufgabe, die Kinder zu begleiten, bis sie selbstständig sind und wissen, wohin ihr Weg führt. Als schweizerisch-russische Doppelbürger haben auch sie die Wahl zwischen den beiden Ländern. Bis die Kinder wissen, was sie wollen, werden wir in der Schweiz bleiben. Aber danach sind die Türen in beide Richtungen offen. Die Vergangenheit hat mich gelehrt, dass in der Zukunft vieles möglich ist.

Spengler: Ich würde gerne noch Herrn Steiert etwas fragen. Sie kündigten unlängst an, dass der Finanzplatz Freiburg dem Volk und der Allgemeinheit dienen soll. Doch gemäss den Pandora-Papers ist er ein Hotspot für Briefkastenfirmen. Finden Sie das okay?

Steiert: Wir sind einer der Kantone, die am meisten Pendler haben – weil wir zu wenige Arbeitsplätze für hochqualifiziertes Personal haben. Wir müssen Jobs schaffen, die für gut ausgebildete Junge passend sind. Meine Priorität ist es ganz klar, solche Stellen zu schaffen. Briefkastenfirmen dagegen bringen praktisch keine Arbeitsplätze. Aber es gibt immer noch die These, dass ein starker Steuerwettbewerb gut für die Wirtschaft ist. Ich teile diese Meinung nur sehr bedingt. Am Schluss hat man Firmen, die nur wegen den Steuern hier sind – und dann weiterziehen. Vielmehr müssen wir in die Forschung investieren. Das ist nachhaltig. Briefkastenfirmen sind sehr volatil. Wenn wir nicht aufpassen, wen wir reinholen, haben wir früher oder später ein Problem.

Dinner: Da bin ich mit den Sozialdemokraten absolut einig. Ich bin der Meinung, dass man an jenem Ort die Steuern bezahlen und Einkaufen soll, wo man lebt. Auch hier geht es um Solidarität. Wenn jemand einen Schweizer Lohn bezieht, soll man dazu beitragen, dass die Mitmenschen ebenfalls Schweizer Löhne beziehen.

Wir sitzen hier Mitten im Röschtigraben – aber die Zweisprachigkeit wird im Kanton Freiburg nicht mit letzter Konsequenz umgesetzt – weder an Schulen noch bei den Behörden….

Steiert: Es ist paradox. Der Anteil der Deutschsprachigen in der Stadt Freiburg hat abgenommen. Aber in der subjektiven Wahrnehmung der französischsprachigen Bevölkerung hat er zugenommen. Im Wahlkampf habe ich auf meiner Visitenkarte aufgeführt, dass ich zweisprachig bin. Da ist eine ältere Frau zu mir gekommen und hat gesagt, dass ich diese Information besser entfernen sollte. Sie könnte mir schaden. Wir werden Koexistenz der beiden Kulturen nur dann optimieren, wenn wir gemeinsame Projekte umsetzen. Auch der Sport kann da eine Rolle übernehmen. In der Garderobe werden zwei Sprachen gesprochen. Man kann den Röschtigraben als Graben sehen – oder als Begegnungszone der Kulturen.

Bykow: Ich habe den Röschtigraben vor allem dann bemerkt, wenn wir gegen den SC Bern gespielt haben. Aber deswegen sind wir Russen in die Schweiz gekommen – um die Menschen zu verbinden und die Gräben zu schliessen.

Neuerscheinung am 20. November!

Die grandiose Entwicklung des Schweizer Eishockeys von der Düsternis der 1970-er Jahre, als die Nationalmannschaft in der Versenkung der Drittklassigkeit verschwand und der „Blick“ höhnte: „Spielt doch gegen Hawaii“ – bis hin zu den Glanzpunkten in den vergangenen acht Jahren, als die Schweiz zweimal bis in den WM-Final stürmte.

Viel Vergnügen beim Lesen!