„Die Schweiz hat uns mit offenen Armen empfangen“

Gipfel der Kulturen. Am SI-Stammtisch in Freiburg unterhalten sich Bundespräsident Guy Parmelin, Stiftungsgründerin Sonja Dinner und Eishockeystar Slawa Bykow über Integration, Covid und die Zweisprachigkeit. Der gebürtige Russe Bykow sagt, weshalb er sich heute auch als Schweizer fühlt.

Text: Thomas Renggli Fotos: Kurt Reichenbach

Die Pinte de Trois Canards liegt im Galterntal (im Vallé du Gottéron), einem mystischen und sagenumwobenen Ort. Das Sonnenlicht berührt den Talboden hier kaum. Schroffe Felswände zeigen dem Menschen die natürlichen Grenzen. Der Legende nach soll hier der Drache schlafen, der dem Hockeyclub Gottéron den Namen gegeben und das Feuer der Leidenschaft eingeflösst hat. Doch auch die Gaststätte selber animiert zu Fantasien und Fabelerzählungen. Sie erinnert an die Üechtländer Antwort auf das Wirtshaus im Spessart, wo sich Halunken, Wegelagerer und andere dunkle Gestalten verabredeten.

An diesem Montag trifft sich im Trois Canards anlässlich des achten Stammtisches von SI/Illustré eine hochrespektable Runde. Bundespräsident Guy Parmelin, 61, Eishockeylegende Slawa Bykow, 61, der Freiburger Staatsratspräsident Jean-François Steiert, 60, Sonja Dinner, 58, von der Stiftung Dear Solidarité Suisse, der 25-jährige Geschichtsstudent Jakob Spengler (Schmitten) sowie die Studentinnen der Medien- und Kommunikationswissenschaft Lisa Willener (19, Homberg) und Anic Marchand (21, Villars sur Glâne).

SI-Co-Chefredaktor Werner De Schepper übernimmt die Gesprächsleitung – wie es sich hart am Röschtigraben gehört bilingue. Gekonnt spielte er den ersten Steilpass – mit der Bemerkung, dass Steiert der verständlichkeitshalber bitte nicht Senslerdeutsch sprechen soll.

Monsieur Bundespräsident Parmelin, was haben Sie heute Morgen gemacht?

Parmelin: Ich bin aus meinem Heimtatort Bursins nah Bern gefahren und ins Büro gekommen. Wir hatten die gewohnte Montagmorgensitzung, an der wir das Wochenende Revue passieren lassen und auf die kommende Woche vorausblicken. Dann folgte ein Sitzung des Bundesamts für Landwirtschaft, an der wir verschiedene Dossiers behandelten und das weitere Vorgehen besprachen. Ausserdem fand das erste Vorbereitungsmeeting für die Bundesratssitzung vom Mittwoch statt. Da haben wir die Themen jeweils in verschiedene Prioritätenlisten sortiert – die orange, mit den Dossiers, bei denen keine besonderen Probleme bestehen; die weisse Liste, mit Themen, die man intensiver diskutieren muss, bei denen die Entscheidungsfindung offen ist, und die grüne, bei der es schwierig wird.

Gibt es ein wichtiges Dossier, das die Studenten betrifft?

Vielleicht nicht die Studenten direkt, aber Themen, die sich generell um die Zukunftsgestaltung drehen. Beispielsweise behandeln wir die Sozialversicherungen – und die Frage, wie in Zukunft mit dieser Thematik umzugehen ist. Da nehmen wir Vorschläge auf, besprechen Eckpunkte und stellen uns die Frage, wie wir eine Botschaft formulieren, die dann in die Vernehmlassung geht. Und da ist natürlich die allgegenwärtige Corona-Thematik. Grundsätzlich kann ich sagen: Eine Sitzung ohne Covid19 hatten wir wohl seit zwei Jahre nicht mehr – und natürlich wird die Impffrage intensiv besprochen.

Bykow: Ich bin gebürtiger Russe. Und ich habe mich für die Impfung mit Sputnik V entschieden, weil es kein Schweizer Produkt gibt. Es wäre schön, wenn der russische Impfstoff auch in der Schweiz bald akzeptiert wird.

Parmelin: Das ist ein rollender Prozess, der auch mit den europäischen Gesundheitsbehörden zusammenhängt. In der Schweiz akzeptieren wir nur Impfstoffe, die von der europäischen Arzneimittelagentur zugelassen werden. Und das gilt für Sputnik bis jetzt nicht.

Bykow: Aber Russland war bei der Impfstoff-Produktion immer führend. Seit ich ein Kind war, habe ich unzählige Impfungen erhalten – und nie ein Problem damit bekundet. Es ist schwer nachvollziehbar, dass ausgerechnet während dieser Krise die Politik über die Gesundheit gestellt wird.

Steiert: Ich habe mich wie alle Mitglieder der Freiburger Regierung impfen lassen, weil ich der Meinung bin, dass wir nur so aus der Krise kommen. Mein Credo ist: möglichst wenig Zwang und möglichst viele Gelegenheit zum sozialen Austausch. Denn für die Psyche der Menschen ist der soziale Kontakt entscheidend. Grundsätzlich kann man sagen: das Krisenmanagement in Covid-Zeiten ist die permanente Suche nach dem Gleichgewicht zwischen gesellschaftlichen, medizinischen, psychischen und wirtschaftlichen Interessen.

Marchand: Ich habe Mühe mit dem Druck, der ausgeübt wird. Und dieser kommt nicht vom Bundesrat oder von den Behörden, sondern bei uns in Freiburg von der Universität und vom persönlichen Umfeld. Ich bin grundsätzlich bereit, mich impfen zu lassen, aber ich möchte selber entscheiden können, ob und wann ich es tue. Wenn ich den Freiraum hätte, mich zu entscheiden, wäre ich vermutlich schon geimpft. Aber so warte ich noch ab.

Spengler: Ich liess mich schon im Februar impfen, weil ich in einem Altersheim arbeite. Für mich stellte sich die Frage nach dem Freiraum nicht im gleichen Zusammenhang wie bei Anic. Für mich eröffnet die Impfung neue Freiräume.

Willener: Bei mir ist es wie bei Anic. Ich habe Mühe, wenn Druck aufgebaut wird – und man zu etwas gedrängt wird, von dem man nicht überzeugt ist.

Steiert: Es ist immer ein Abwägen. Es geht um die Gewichtung zwischen kollektivem Interesse und persönlicher Freiheit. Dazwischen gibt es nicht nur Weiss und Schwarz. Man führte ähnliche Diskussionen zu anderen Impfungen wie Röteln oder Masern – aber damals wesentlich weniger hitzig. Dazu kommt der soziale Aspekt: Viele Junge sind während der Pandemie depressiv geworden. Gerade, wenn man mit dem Studium beginnt und die Mitkommilitonen nicht treffen kann, fühlen sich viele alleine gelassen. Wir werden noch lange mit den Folgen von Long-Covid zu kämpfen haben – vor allem mit den psychischen Folgen. Aber zurück zur Impfung: Ich bin persönlich vom Impfstoff überzeugt. Wir haben die Richtlinien aber immer so versucht zu legen, dass man sich testen lassen kann, wenn man die Impfung nicht will.

Sonja Dinner, Sie waren ein der ersten, die vor wirtschaftlichen und mentalen Folgen der Pandemie gewarnt hatten…

Dinner: Die Entwicklung hat mich nicht wirklich überrascht. Vielleicht bin ich in dieser Beziehung von meiner internationalen Arbeit geprägt – und den Erfahrungen mit Seuchen wie Dengue-Fieber, Ebola, oder Malaria. Pandemien halten sich nicht an Parteiprogramme. Und bei Covid handelt es sich nicht nur um eine Pandemie. Das Virus hat tausende Gesichter: medizinisch, wirtschaftlich, mental. Meine Sorge war es, dass sich die Schweiz lange nicht erholen wird. Ganz so schlimm ist es nicht gekommen. Beispielsweise im Tourismus haben sich die Menschen angepasst. Viele gehen nun in der Schweiz in die Ferien. In anderen Bereiche wie Gastronomie, Kunst oder Unterhaltung ist eine allmähliche Erholung spürbar. Wiederum andere Branchen aber werden sich nie ganz erholen. Dabei hatten wir noch nie so viel Geld in der Schweiz wie jetzt. Die Solidarität muss noch besser spielen.

Parmelin: Ich bin der Meinung, dass wir den Gedanken der Solidarität in der Schweiz gut ausleben – und die Massnahmen gut dosieren. Beispielsweise waren wir das einzige Land, das die Schulen nur 15 Tage geschlossen hatte. Grundsätzlich geht es immer um individuelle Lösungen. Gewisse Branchen muss man intensiver begleiten als andere. Und die Jungen darf man nicht alleine lassen. Doch die Wirtschaft wird nach Covid nicht mehr die gleiche sein wie vorher. Nehmen wir das Beispiel der Gastronomie. Weil viele Firmen auf Homeoffice setzten, werden die Menschen am Mittag nicht mehr fünfmal pro Woche im Restaurant essen. Wir müssen lernen, mit der neuen Situation umzugehen.

Slawa Bykow, was hat die Pandemie mit dem Sport und mit den Jungen im Sport gemacht?

Bykow:  Für viele junge Mannschaftssportler war es eine traurige Zeit. Das Geschäftsleben kann man digital organisieren. Aber im Sport gibt es kein Homeoffice. Der Sport im Allgemeinen und das Eishockey im Speziellen funktionieren nur im Kollektiv. Nur gemeinsam kommt man ans Ziel. So ist der Sport für mich wie eine positive Droge. Er ist gut für die Gesundheit, er ist gut für Gesellschaft, er ist gut für die Psyche. Aber wenn man nicht mehr mit den Kollegen spielen kann, bleibt vieles auf der Strecke. Der Sport war für mich aber auch immer ein Mittel zur Integration. Vor allem durch das Eishockey habe ich mich in der Schweiz schnell wohl gefühlt – und hier meine zweite Heimat gefunden. Ich bin dankbar, dass mich die Schweiz mit derart offenen Armen empfangen hat. Deshalb möchte ich nun auch etwas zurückgeben.

Willener: Auch für mich ist der Sport sehr wichtig. Ich spiele Unihockey.

Bykow: Das ist grossartig – fast so gut wie Eishockey (lacht).

Willener: Mein Vater hat diesen Sport schon gespielt. Ich spüre auch, dass man von Teamsport kaum mehr loskommt, wenn man diese Erfahrung einmal machen konnte. Als wir während der Pandemie plötzlich nicht mehr gemeinsam trainieren konnten, fehlte das wichtigste. Ich vermisste meine Teamkolleginnen. Wenn man alleine trainieren muss, entfällt die gegenseitige Motivation und die kollektive Freude.

Bykow: Der Effekt, dass man sich gegenseitige Energie vermitteln kann, wird im Sport intensiv spürbar. Und man lernt, Ziele zu fixieren – und sie dann zu erreichen.

Marchand: Wenn wir von Zielen und Lösungen sprechen, möchte ich Herrn Parmelin etwas sagen: Ich habe den grössten Respekt vor dem Bundesrat. Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen machen eine grossartige Arbeit. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken, denn sie müssen unter einem gewaltigen Druck stehen. Mich würde es interessieren, wie sie die Pandemie als private Person erlebt haben.

Parmelin: Als Bundesrat muss man Entscheidungen treffen, die alle angehen. Es ist unglaublich, wie viele Personen plötzlich unsere Medienkonferenzen verfolgen. Neulich wurde ich von einem achtjährigen Mädchen angesprochen, dass sie jede Medienkonferenz anschaut. Im Bundesrat sind wir sieben Personen – mit verschiedenen Meinungen. Wir wollten immer Entscheidungen treffen, die den Menschen schnell helfen und das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Instanzen wahren. Als es um die Kurzarbeit ging, haben wir beispielsweise eine Lösung für die Selbständigen gesucht. Dann kamen die Schausteller – oder die Taxifahrer, die zwar kein Berufsverbot hatten, aber selber auch schwer betroffen waren. Das war dramatisch. Wir erhielten auch viele persönliche Briefe, die das Ausmass der Krise dokumentiert haben. Aber ich glaube auch, dass wir es im internationalen Vergleich nicht so schlecht gemacht haben. Und grossen Dank an Frau Dinner, dass Sie das System mit Ihrer Stiftung komplettieren.

Dinner: Aber trotzdem sind viele Branchen, aber auch Einzelschicksale durch die Maschen gefallen. Deshalb müssen wir die Solidarität weiter fördern. Ich ermutige alle Menschen, flexibel zu sein – und nicht unnötig an Dingen und Mustern festzuhalten. Aber es gibt viele Menschen, die keine Wahl haben – weil sie nicht so einfach einen anderen Beruf lernen können. Da müssen wir als Gesellschaft ein Auffangnetz bieten.

Parmelin: Es gibt viele Einzelschickschale. Das spüren wir auch im Bundesrat. Beispielsweise habe ich ein Mail von einer wütenden Person erhalten, die einen Take-away-Betrieb führt. Der dortige Kanton hat entschieden, dass dieses Unternehmen ab 16 Uhr nicht mehr arbeiten darf – also genau in jener Zeit, in der es die grössten Umsätze macht. Dann habe ich den Kontakt mit dem entsprechenden Kanton aufgenommen – und die Antwort erhalten, dass man den Apero ja auch an einem anderen Ort einnehmen kann. Das ist schwer nachvollziehbar.

Dinner: Wir arbeiten mit Organisationen und Berufs-Verbänden zusammen, die mit Unterstützungsgesuchen an uns gelangen. Zum Beispiel stark betroffenen Berufsgruppen und  Organisationen, die arbeitslose Jugendliche und Über-50-Jährige unterstützen oder allerziehende Väter und Mütter. So haben wir verschiedene Modelle für unterschiedliche Berufsgruppen, die besonders stark betroffen sind.

Steiert: Man muss sich im Krisenmanagement immer an den Kleinen orientieren. Aber man muss auch uns Politiker verstehen. Normalerweise dauern die Entscheidungsprozesse mehrere Jahre. Nun müssen wir innerhalb kurzer Zeit Lösungen finden. Wir müssen als Kantone extrem schnell entscheiden – ohne immer sicher zu sein, dass wir richtig liegen, weil das Wissen zum Teil noch nicht exisitiert. Das ganze Vernehmlassungverfahren, das die Schweizer Kultur pflegt, ist faktisch ausser Kraft. Man hat keine Zeit mehr, mit den Leuten vorgängig zu sprechen. Wenn ich mit dem Velo unterwegs bin, werde ich oft von Menschen angesprochen – und muss auch Fehler eingestehen. In der Pandemie ist in unserer politischen Arbeit viel Präzision verlorengegangen. Früher hatten wir in der Schweizer Politik quasi eine Uhrmacherkultur. Aber heute ist diese oft nicht mehr möglich.

Willener: Herr Bundespräsident. Was mich interessieren würde, ist die Testsituation. Wenn ich in Bern studieren würde, müsste ich für die Tests nicht bezahlen – in Fribourg aber schon. Könnte man dies nicht schweizweit gleich handhaben?

Parmelin: Das ist unser Föderalismus. Der Bundesrat hat entschieden, dass die Tests so lange gratis sind, bis sich alle impfen lassen konnten. Nun haben wir entschieden: entweder Impfung oder bezahlter Test. Denn man kann nicht immer alles auf den Steuerzahler abwälzen. Aber grundsätzlich muss ich sagen: Die Tests können helfen, um aus der Pandemie zu kommen. Aber am Schluss braucht es die Impfung. Und da gibt es in einigen Regionen Nachholbedarf. Heute habe ich beispielsweise gehört, dass im Entlebuch nur 20 Prozent der Bevölkerung geimpft sind.

Wie beurteilen Sie die Stimmung in der Bevölkerung. Gerade die Impffrage wird mit einer unschweizerischen Heftigkeit geführt…

Parmelin: Man darf scharf diskutieren, aber man muss zuhören – und den Anstand wahren. Die Aggressivität, mit der die Debatte an gewissen Orten geführt wird, ist nicht akzeptabel. Denn in der Schweiz besitzt jeder ein Mitspracherecht. Wir können mindestens viermal pro Jahr über alle Themen abstimmen. Ich bin in den sozialen Medien nicht präsent. Aber wenn ich teilweise höre, was dort kommuniziert wird, stimmt mich das nachdenklich. Grundsätzlich bewege ich mich aber noch so frei im wie vor der Pandemie. Und es gibt auch heitere Erlebnisse. Neulich war ich in einem Spital in Avignon – und wurde bei der Registrierung erkannt. Da hat mich der Mann gefragt, ob ich immer noch Bauer sei. Ich habe geantwortet: Nein, ich bin jetzt Bundesrat. Da kam die Frage: Was ist ein Bundesrat?

Bykow: In Russland würde man nie so einfach mit einem Politiker in Kontakt kommen. Unsere Minister sind quasi unberührbar. Dank meinem Status als Nationaltrainer hatte ich aber das Privileg, Vladimir Putin mehrmals zu treffen. Dabei ging es um die Entwicklung im Sport im Allgemeinen und im Eishockey im Speziellen. Es waren immer sehr teamorientierte, konstruktive und produktive Gespräche. Ich bin ihm sehr dankbar, was er für den Sport geleitet hat.

Parmelin: Ich traf ihn am Rande des Gipfels mit Joe Biden in Genf.

Bykow: Was mir an Putin besonders imponiert: Er ist immer sehr gut informiert über seine jeweiligen Gesprächspartner und die Branche, in denen sie sich bewegen. Im Eishockey beispielsweise kennt er alle Details. Und er hat es in unserem Sport noch auf ein akzeptables Niveau gebracht – obwohl er erst mit 50 damit begonnen hat.

Herr Bykow, sie sind seit 2003 Schweizer Staatsbürger. Aber ihre Wurzeln liegen in Russland. Wo möchten Sie alt werden?

Bykow: Wir sind am 4. Juli 1990 in die Schweiz gekommen – fast schon symbolhaft am Tag der amerikanischen Unabhängigkeit. Unsere Kinder Masha und Andrei waren damals 6 und 2 Jahre alt. Sie haben ihre ganze Kindheit und Jugend in der Schweiz verbracht – und leben mittlerweile mit ihren eigenen Familien. Als Eltern ist es unsere Aufgabe, die Kinder zu begleiten, bis sie selbstständig sind und wissen, wohin ihr Weg führt. Als schweizerisch-russische Doppelbürger haben auch sie die Wahl zwischen den beiden Ländern. Bis die Kinder wissen, was sie wollen, werden wir in der Schweiz bleiben. Aber danach sind die Türen in beide Richtungen offen. Die Vergangenheit hat mich gelehrt, dass in der Zukunft vieles möglich ist.

Spengler: Ich würde gerne noch Herrn Steiert etwas fragen. Sie kündigten unlängst an, dass der Finanzplatz Freiburg dem Volk und der Allgemeinheit dienen soll. Doch gemäss den Pandora-Papers ist er ein Hotspot für Briefkastenfirmen. Finden Sie das okay?

Steiert: Wir sind einer der Kantone, die am meisten Pendler haben – weil wir zu wenige Arbeitsplätze für hochqualifiziertes Personal haben. Wir müssen Jobs schaffen, die für gut ausgebildete Junge passend sind. Meine Priorität ist es ganz klar, solche Stellen zu schaffen. Briefkastenfirmen dagegen bringen praktisch keine Arbeitsplätze. Aber es gibt immer noch die These, dass ein starker Steuerwettbewerb gut für die Wirtschaft ist. Ich teile diese Meinung nur sehr bedingt. Am Schluss hat man Firmen, die nur wegen den Steuern hier sind – und dann weiterziehen. Vielmehr müssen wir in die Forschung investieren. Das ist nachhaltig. Briefkastenfirmen sind sehr volatil. Wenn wir nicht aufpassen, wen wir reinholen, haben wir früher oder später ein Problem.

Dinner: Da bin ich mit den Sozialdemokraten absolut einig. Ich bin der Meinung, dass man an jenem Ort die Steuern bezahlen und Einkaufen soll, wo man lebt. Auch hier geht es um Solidarität. Wenn jemand einen Schweizer Lohn bezieht, soll man dazu beitragen, dass die Mitmenschen ebenfalls Schweizer Löhne beziehen.

Wir sitzen hier Mitten im Röschtigraben – aber die Zweisprachigkeit wird im Kanton Freiburg nicht mit letzter Konsequenz umgesetzt – weder an Schulen noch bei den Behörden….

Steiert: Es ist paradox. Der Anteil der Deutschsprachigen in der Stadt Freiburg hat abgenommen. Aber in der subjektiven Wahrnehmung der französischsprachigen Bevölkerung hat er zugenommen. Im Wahlkampf habe ich auf meiner Visitenkarte aufgeführt, dass ich zweisprachig bin. Da ist eine ältere Frau zu mir gekommen und hat gesagt, dass ich diese Information besser entfernen sollte. Sie könnte mir schaden. Wir werden Koexistenz der beiden Kulturen nur dann optimieren, wenn wir gemeinsame Projekte umsetzen. Auch der Sport kann da eine Rolle übernehmen. In der Garderobe werden zwei Sprachen gesprochen. Man kann den Röschtigraben als Graben sehen – oder als Begegnungszone der Kulturen.

Bykow: Ich habe den Röschtigraben vor allem dann bemerkt, wenn wir gegen den SC Bern gespielt haben. Aber deswegen sind wir Russen in die Schweiz gekommen – um die Menschen zu verbinden und die Gräben zu schliessen.

Neuerscheinung am 20. November!

Die grandiose Entwicklung des Schweizer Eishockeys von der Düsternis der 1970-er Jahre, als die Nationalmannschaft in der Versenkung der Drittklassigkeit verschwand und der „Blick“ höhnte: „Spielt doch gegen Hawaii“ – bis hin zu den Glanzpunkten in den vergangenen acht Jahren, als die Schweiz zweimal bis in den WM-Final stürmte.

Viel Vergnügen beim Lesen!

Glücksfall im Paradies

Kühne Pläne mitten in der Krise. Wie der Showmanager Freddy Burger in der Pandemie zum Besitzer eines grandiosen Hotels in Portugal wurde und wie er den Gästen das seltene Erlebnis von bezahlbarem Luxus bietet.

Text: Thomas Renggli   

Fotos: Rebecca Marshall

Die Wellen schlagen mit tosender Gewalt auf die senkrechten Klippen. Die Gischt wirbelt und schäumt wie das Wasser in einer riesigen Wäscheschleuder. Über einem Fischerboot jagt ein Schwarm Möwen kreischend nach Restbeute. Und am Horizont wird die Sonne als feuerroter Ball vom Meer verschluckt. Dahinter kommt nichts mehr – oder zumindest nicht in Europa. Das nächste Stück Festland liegt in Amerika. Wir befinden uns an der Algarve, jenem Küstenstreifen Portugals, der einst ein eigenes Königreich war, an dem die Sehnsucht der stolzen Sehfahrernation vom permanenten Wind in die Seelen der Menschen getragen wird und der heute Touristen aus allen Ecken der Welt anlockt. Am Cabo de São Vicente, am südwestlichsten Punkt Europas, verkauft ein deutscher Auswanderer die „letzte Bratwurst vor Amerika“ – und händigt als Supplement jedem Gast ein „Kap-Zertifikat“ aus.

Unweit dieses mystischen Orts hat Freddy Burger sein neues Glück gefunden. „Ist es nicht wunderbar hier“, sagt er und legt seiner Ehefrau Isabella zärtlich die Hand auf die Schulter. Die beiden stehen hoch über dem Atlantik und blicken in die Ferne. Seit vergangenem Juli ist der Showmanager und Unternehmer aus Zürich Besitzer des Hotels „Vivenda Miranda“ – was auf Deutsch „bewundernswerte Villa“ bedeutet. „Der Name passt perfekt“ sagt Burger und erzählt mit der Begeisterung eines Teenagers: „Als ich dieses Hotel zum ersten Mal sah, habe ich mich auf der Stelle in diese einzigartige, wunderschöne Oase verliebt“.

Glückliche Fügung des Schicksals: Das Haus war pandemiebedingt geschlossen und stand zum Verkauf. Weniger glücklich war dagegen der Geschäftsgang in Burgers Show- und Gastronomieimperiums. Nachdem am 13. März 2020 der Lockdown der ganzen Schweiz den Stecker rausgezogen gezogen hatte, standen auch Burgers Betriebe still: „Die Corona-Krise hat uns wirtschaftlich hart getroffen. Von einem Moment auf den anderen waren wir ohne Einnahmen – für rund anderthalb Jahre. Aber ich bin ein Mensch, der vorsichtig kalkuliert und nicht über die Stränge schlägt. Auch deshalb besassen wir genügend Reserven, um mit einem blauen Auge davonzukommen.“

Burger beschreibt sich selber als „recht rationalen Manager“. Da passt es schlecht, dass er ausgerechnet in der grössten Krise seit dem zweiten Weltkrieg ein Hotel in einem der strukturschwächsten Länder Europas kauft. Wenn er darauf angesprochen wird, sagt er schmunzelnd: „Tatsächlich haben mich meine Freunde und Bekannten gefragt, wie ich mir das antun könne.“ Und er habe geantwortet: „Ja, genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt, nochmals etwas neues zu machen.“ Es sei ein Bauchentscheid gewesen sagt Burger – und fügt sofort an: „Vor allem bin ich Geschäftsmann. Und zwischen Bauch und Kopf besteht bei mir eine direkte Verbindung.“ Er sei überzeugt davon, dass Portugal – insbesondere die Algarve – ein noch nicht ausgeschöpftes Potenzial besitze; ein Potenzial, das in den nächsten Jahren erst noch entdeckt werden wird. Burger gerät ins Schwärmen: „die Natur, das Klima, die Menschen, das sportliche Angebot, die Küche“.

Die Vivenda Miranda passt perfekt in diese Umgebung – mit der schier unschlagbaren Lage als wichtiges Verkaufsargument. Den Standort verdankt das Gebäude einer glückhaften Konstellation. In seinem ursprünglichen Zustand wurde es im 19. Jahrhundert als Herrschaftssitz einer englischen Adelsfamilie zu einer Zeit erreichtet, als es noch keine Bauverordnung gab. Und als es in den 1990-er Jahren neuerstellt wurde, konnte man sich auf die bestehenden Grundmauern berufen. Denn mittlerweile gilt für Neubauten ein Mindestabstand zur Küstenlinie von 200 Metern. So thront die in roten Pastelltönen gehaltene Anlage mit 2900 Quadratmetern Wohnfläche und einem Gesamtumschwung von 7500 Quadratmetern hoch über dem Atlantik wie auf einem unsichtbaren Plateau. Auf der Restaurantterrasse scheint man über dem stahlblauen Wasser zu schweben. Mit etwas Glück kann man sogar die Delfine beim Spielen beobachten. Die Küche wird dem Anspruch der Szenerie problemlos gerecht. Der deutsche Spitzenkoch Christoph Vogt bietet ein internationales Angebot mit einer grossen Auswahl an frischen Fischen und einem exzellenten Lammkotelett. Freddy Burger freilich hat einen anderen Tipp auf Lager: „den Freddy Burger“, der vielleicht beste Rindfleisch-Hamburger diesseits des Atlantiks.

Die wahre Qualität eines Hotels erkennt man aber erst in den Zimmern. Und hier überrascht das Vivenda Miranda die Gäste hinter jeder Türe von neuem. Jeder der 27 Räume ist von der deutschen Künstlerin Christina Meier individuell gestaltet, von Hand gestrichen und liebevolle ausdekoriert. Prunkstück ist die Boutique Suite, in der man sowohl aus dem Doppelbett als auch aus der Dusche direkte Meersicht besitzt. Auf dem grosszügigen Balkon fühlt man sich wie in der Loge eines Opernhauses – mit dem kleinen Unterschied, dass man nicht auf eine Bühne blickt, sondern auf die atemberaubende Kulisse von weissen Stränden, rötlich strahlenden Felsformationen und einer Wasseroberfläche, die in allen Blau- und Grüntönen leuchtet; und das zu einem überschaubaren Preis ab 385 Euro pro Nacht. „Bezahlbaren Luxus“, nennt es Freddy Burger – und schiebt nach: „einen schöneren Ort kann ich mir kaum vorstellen“.

Seine Worte erhalten im „Rei das Praias“ noch mehr Gewicht. Es ist eine ehemalige Strandbar an der malerischen Bucht „Praia dos Caneiros“, die zu einem der besten Fischrestaurants befördert wurde. Die Aussicht über den Atlantik ist atemberaubend. Ein grosser Felsen steht wie ein gewaltiger Monolith sprichwörtlich in der Brandung. Obwohl das Wasser auch in der heissesten Jahreszeit kaum über 23 Grad warm wird, tummeln sich noch Ende Oktober viele Menschen in der Brandung. Es scheint, als gehe der Sommer hier nie zu Ende. Doch der Blick auf das unbeschwerte Treiben macht auch deutlich, dass mit dem Ozean nicht zu spassen ist;  zu unberechenbar sind die Strömungen, zu hoch die Wellen. Die Rettungsschwimmer stehen in Vierer-Formation einsatzbereit am Strand und holen immer wieder Badende aus dem Wasser, die sich zu viel zumuten. Denn schon mancher ist hier wie von Geisterhand auf das offene Meer hinausgezogen worden.

Doch wenn Luis Filipe mit den Menüvorschlägen an den Tisch tritt, sind diese Gedanken weit weg. Der Mann führt mit seiner Familie diesen unkonventionellen Betrieb seit 40 Jahren, kennt die meisten Gäste mit Vorname und kauft den Fischern persönlich das Meergetier ab: Als er Freddy Burger sieht, leuchten seine kleinen Augen und verstärkt sich sein verschmitztes Schmunzeln zu einem fröhlichen Lachen. Es sind auch solche Begegnungen, die Burger an diesen Ort binden und ihm eine feste emotionale Basis geben. „Ich werde hier behandelt wie ein Einheimischer“, sagt er.

Vor vierzig Jahren erstand er an diesem damals noch wenig erschlossenen Ort seine erste Liegenschaft und gestaltete sie (als gelernter Hochbauzeichner) eigenhändig um. Heute ist die Villa mit grossem Swimmingpool und präzis geschnittenem Rasen für ihn einer seiner wichtigsten Kraft- und Fluchtorte.

Hier tankt der Erfolgsmanager neue Energie, hier holt er Schwung für neue Ideen und Visionen. Schliesslich fühlt er sich auch mit 75 Jahren noch längst nicht am Ende seiner Schaffensperiode. Die Kraft schöpft er vor allem auch aus seiner Beziehung mit der zwanzig Jahren jüngeren Isabella. Die beiden kennen sich schon lange, haben Kinder aus früheren Ehen, sind ein eingespieltes Team – obwohl sie aus Welten kommen, die unterschiedlicher nicht sein können. Burger, als Arbeiterkind im Zürich Aussenquartier Schwamendingen aufgewachsen, ist der gelegentlich hemdsärmelige Macher, der in Zürich einst die legendären Nachtclubs The Joker (Adagio) und Mascotte lancierte, während vier Jahrzehnten mit geschickter Hand und kühlem Blut Udo Jürgens durchs oft überhitzte Showgeschäft lenkte und letztlich einen Konzern mit 20 Firmen und 200 Festangestellten etablierte. Isabella, die studierte Psychologin, begleitet Menschen „in schwierigen und herausfordernden Lebensphasen“. Dafür nutzt sie neben konventionellen Methoden auch hypnotische Elemente. Geht man von der These aus, dass sich Gegensätze anziehen, sind Freddy und Isabella Burger das beste Beispiel, dass dies stimmt.

Emotional ist Isabella die wichtigste Stütze von Burger; auch was das Hotelprojekt betrifft. Sie war von der Anlage sofort ebenso begeistert, und sie lernte ihren Ehemann bei den Verhandlungen von einer ganz neuen Seite kennen: „Ich war beeindruckt wie hart und zielorientiert er in den Gesprächen mit dem früheren Besitzer auftrat“. Hätte Isabella das Vorhaben aber nicht voll und ganz unterstützt, Freddy Burger wäre kaum zum Hotelbesitzer geworden. Geschäftlich kann er sich auf den erfahrenen Gastronom und Hotelier Andy Stocker verlassen. Der Spross einer bekannten Familie und Cousin des legendären Klimawissenschaftlers und Umweltphysikers Thomas Stocker sowie des Grossbäckereibesitzers Urs Stocker führt seit Jahrzehnten in Lagos unweit von Burgers Domizil den Carvoeiro Club, eine exklusive Villenanlage, in der auch Burger vier Häuser besitzt, sowie weitere Ferienresorts. Stocker war es, der Burger vor anderthalb Jahren auf das Hotel Vivenda Miranda aufmerksam machte; er ist es, der das Haus heute als Pächter zusammen mit der Geschäftsführerin Patricia Bürer leitet. Von den Angestellten wird er respektvoll „Direktor“ genannt.

Stocker schaut dafür, dass in diesem speziellen Betrieb die Scharniere funktionieren und die einzelnen Rädchen perfekt ineinander greifen. Zur Philosophie des Hauses sagt er: „Wir richten unser Angebot an Individualreisenden mit hohen Ansprüchen aus.“ Im Sommerhalbjahr sei die Auslastung gut. Entscheidend für den kommerziellen Erfolg sei aber der Winter. Dann hofft er, unter anderem Golfspieler anzulocken. Denn kaum an einem anderen Ort der Welt ist die Dichte an Golfplätzen grösser. Allein zwischen der spanischen Grenze und der Westküste warten 45 Courses auf die ambitionierten Spieler.

Einen grossen Wert legt Stocker ausserdem auf das kulinarische Angebot. Offenbar hat sich dies auch schon im Kreis des Sportadels herumgesprochen. Kürzlich gab sich der frühere Tennis-Weltranglistenerste Stefan Edberg die Ehre. Er soll von Küche und Service begeistert gewesen sein und seine Rückkehr bereits angekündigt haben.

Zufall ist das nicht. Denn mit dem Besitzerwechsel wurde ein Grossteil des Personals ausgewechselt und damit neue Dynamik und frischen Schwung entfacht. Zuvor hatte Urs Wild, ebenfalls ein Schweizer, den Betrieb während 30 Jahren mit viel Herzblut geführt. Weil sich die Nachfolge aber nicht innerhalb der Familie regeln liess, entschied er sich zum Verkauf. Dass bei der neuen Crew viele Abläufe für die Angestellten noch neu sind, bemerkt der Gast nie. Der Service ist überaus freundlich, die Mitarbeiter sind hochmotiviert und lesen den Gästen jeden Wunsch von den Augen ab. Und der Stress des Alltags wird schon am Morgen konsequent ausgeblendet. Anstelle des mittlerweile branchenüblichen Frühstücksbüffets, an dem es spätestens nach dem fünften Gast so ähnlich aussieht wie nach der Schlacht bei Waterloo, wird die erste Mahlzeit des Tages auf Bestellung und direkt an den Tisch serviert – dazu gehört auch der frischgepresste Orangensaft, der tadellose italienische Kaffee sowie Omelette mit der perfekten Konsistenz. So kann man die Aussicht ohne Hektik und Gefühl der Torschlusspanik geniessen und Pläne für den weiteren Tag schmieden: Soll man schwimmen gehen? Soll man an der endlosen Küstenlandschaft auf den spektakulären Holzstegen spazieren? Soll man am wunderbaren Swimmingpool einfach die Seele baumeln lassen? Oder den Nachmittag im Spa- und Wellnessbereich geniessen. Was immer man auch tut, etwas wird man kaum vergessen: Freddy Burger und Andy Stocker zu danken, dass sie diesem kleinen Paradies neues Leben eingehaucht haben.

Tagebuch

„Reisen bildet“, sagt der Volksmund. In Covid-Zeiten trifft dies doppelt und dreifach zu. Als Sportreporter war das Flugzeug früher fast wie ein zweites Wohnzimmer für mich. 16 Eishockey-Weltmeisterschaften, sechs Olympische Spiele, Dutzende von internationalen Fussballspielen. Zeitweise hatte ich mehr russische Visa im Pass als Ferientag pro Jahr. Mit der Pandemie änderte sich aber alles. Das Leben wurde quasi gegroundet, die Eventkultur global gestrichen. Man begegnete den Interviewpartnern nicht mehr persönlich, sondern nur noch via Zoom, WhatsApp oder Livestream.

Erst Impfung und Covid-Zertifikat öffneten das Tor zur Welt wieder. Die Flugbewegungen haben zwar noch längst nicht das vorpandemische Niveau erreicht, doch mittlerweile hält man eine Linienmaschine der Swiss nicht mehr für ein UFO. Auch ich setzte mich unlängst das erste Mal seit fast zwei Jahren wieder in einen Flieger, um vom Halbjahreskongress des Internationalen Eishockeyverbandes (IIHF) in St. Petersburg zu berichten. Dabei wurde mir schonungslos in Erinnerung gerufen, dass nichts mehr ist wie früher – abgesehen vom Ringen mit der russischen Botschaft im Zusammenhang mit der rechtzeitigen Visumsausstellung.

Impftechnisch herrschen zwischen Moskau und Schengen Zustände wie im kalten Krieg. Die Schweiz akzeptiert den Sputnik-Impfstoff nicht. Und Russland verweigert unseren Vakzinen die Anerkennung. Dies führt dazu, dass man ohne einen negativen PCR-Test (der nicht älter ist als 72 Stunden) die Reise gen Osten nicht in Angriff nehmen kann. Und weil Testergebnisse in dieser Zeitspanne exklusiv am Flughafen Kloten erhältlich sind, führt dies zu einer Warteschlange, die noch länger ist, als wenn in Wimbledon die letzten Finaltickets angeboten werden.

In Russland selber herrscht dann allerdings Tauwetter. Trotz steigenden Fallzahlen scheint Präsident Vladimir Putin Covid auszublenden. Im Strassenbild sind Masken eine Seltenheit, und auch in Innenräumen geben sich höchstens ausländische Gäste bedeckt. Zwar ist erst ein Drittel der russischen Bevölkerung geimpft, doch scheint man darauf zu vertrauen, dass Corona quasi per staatlichem Dekret beendet wird. Trotzdem kriegte ich meine Dosis Corona-Prophylaxe in hoher Konzentration ab. Weil wir uns am IIHF-Kongress quasi in einer geschlossenen Blase befanden, mussten wir uns jeden zweiten Tag testen lassen. Das war nichts Schönes für die Nase.

Wer denkt, die russischen Richtlinien sind im internationalen Vergleich streng, wird spätestens bei der Rückkehr in die Schweiz eines Besseren (oder Schlechteren) belehrt. Denn seit einigen Wochen verlangt die Eidgenossenschaft von jedem Einreisenden ein ausgefülltes Formular. Wer nicht geimpft oder genesen ist, muss ausserdem ein negatives Testergebnis vorweisen. Und wer ohne den Fackel vom Zoll erwischt wird, bezahlt 100 Franken. Widerstand zwecklos.

Doch dies konnte mein neues Reisefieber nicht lindern. So entschied ich mich mit meiner Familie, die neue Freiheit für Badeferien auf Zypern zu nutzen. Glücklicherweise war in den Medien zu lesen, dass das Covid-Zertifikat exakt den Angaben im Reisepass entsprechen muss. Und weil in der ursprünglichen Version mein zweiter Vorname (Stefan), den ich allerdings in meinem Leben noch nie bewusst verwendet hatte, fehlte – beantragte ich ein neues Dokument. Nun schien der Weg frei auf die Insel der Aphrodite. Doch Zeus hatte etwas dagegen.

Als ich beim Einchecken am Terminal 2 in Kloten die Koffer aufgeben wollte und voller Freude mein Covid-Zertifikat (mit dem zweiten Vornamen) zeigte, forderte mich die grimmig dreinblickende Frau am Schalter ultimativ auf, den „Cyprus Flight Pass“ zu zeigen. Ich war völlig überrumpelt und auf dem falschen Fuss erwischt. Mit dem Handy war das Ausfüllen des entsprechenden Formulars unmöglich. Immer wieder landete ich in der digitalen Sackgasse – wo meine Legitimation für die Einreise unter den Richtlinien der Wiener Konvention gefordert wurde. Nach ungefähr einer Stunde mühsamen Tippens, einem Krach mit meiner Ehefrau (und mittleidigen Blicken der Mitreisenden) gab ich konsterniert auf. Im Dschungel der Paragraphen, Bedingungen und Bestätigungen war ich völlig verloren.

Ich wollte bereits aufgeben und den Ferien „good bye“ sagen, als mich ein Flughafenmitarbeiter darauf aufmerksam machte, dass mir am Schalter von „Intrapass“ im ersten Stock geholfen werden konnte. Und glücklicherweise stimmte dies. Ein rettender Engel stellte mir in zirka 40 Minuten die vier Flug-Pässe für Zypern aus – für je 50 Franken.

Mittlerweile sind wir schon vier Tage auf dieser wunderschönen Insel. Falls es sie interessiert: Das Wetter ist grossartig, das Meer noch immer 24 Grad warm, und das Essen im Hotel lässt nichts zu wünschen übrig. Doch der Heimflug naht – und damit die Rückkehr ins Covid-Dickicht. Gestern lag ein Brief auf dem Zimmer, in dem uns mitgeteilt wurde, dass der ominöse Flug-Pass nur acht Tage gültig ist – und dass für die restliche Zeit ein „Cyprus Safe Pass“ gefordert ist. Ich bin guten Mutes, dass wir auch diese Klippe umschiffen werden, um dann mit grossem Enthusiasmus das Schweizer Einreiseformular auszufüllen – und mit wehenden Fahnen nach Hause zurückzukehren.

Und die Moral dieses Tagebucheintrags. Das Corona-Virus kennt keine Grenzen. Aber der Traum vom grenzenlosen Europa gehört mittlerweile ins Reich der Märchen, Fabeln und Albträume.

Thomas Renggli

Yoga im TV-Geschäft und der Zahnarzt stopft die Jeanslöcher

Ich bin auch eine Post. Seit einigen Wochen kann man in der Bäckerei Fischer in Ebmatingen nicht nur Vollkornbrötchen und süsse Confiserie kaufen, sondern auch Briefmarken und farbige Glückwunschkarten. Jobsharing war früher, heute heisst es Multitasking. Und dies ist für das Fischer-Personal kein Problem. Erforderte die Ausbildung zum Posthalter früher eine mehrjährige Berufslehre, wurden die Adhoc-Pöstler(innen) an der Stuhlenstrasse an zwei Nachmittage in den Glanz des gelben Riesen befördert. Gewisse Verwirrung ist bei dieser Schnellbleiche allerdings nicht ausgeschlossen. Als ich neulich einen Brief nach Wil schicken wollte, reichte mir die freundliche Mitarbeiterin ein St. Galler Brot – und als ich mich nach dem Preis für eine Paketsendung nach Zermatt erkundigte, erhielt ich ein Gipfeli.  Doch schon nach kurzer Anlaufzeit sind diese Kinderkrankheiten ausgemerzt. Zwar war vergangene Woche die Brotauslage schon um 11.15 leergefegt, dafür wurde ich sofort über den B-Post-Preis für ein Grosscouvert nach Solothurn informiert. 

Mit ihrem branchenübergreifendem Dienst setzen die backenden Pöstler den Trend – und rufen Nachahmer auf den Plan. Die Coop-Getränkehandlung in Ebmatingen will ebenfalls diversifizieren und künftig Kinderbetreuung über Mittag anbieten. Die Elektromonteure von Unholz gehen ab Herbst mit den Hunden Gassi, Radio TV Bindschädler bietet nicht nur die besten Flachbildschirme weit und breit an, sondern will sein Sortiment um veganes Essen und Yogakurse erweitern. Zahnarzt Gabriel stopft auch Löcher in Kinderjeans, die immer freundliche Frau Jafari von der Schneiderei Fingerhut hilft ab sofort beim Ausfüllen der Steuererklärung, und nebenan kann man im Fachgeschäft für Braut- und Festmode schon bald Therapiesitzungen für Ehe- und Partnerschaftsberatungen buchen. Last but not least stellt der Werkhof auf 24-Stunden-Betrieb um und lanciert seinen eigenen Partyservice (Altglasentsorgung inbegriffen).

Wer nun denkt, dies sei alles ein wenig übertrieben, kann beruhigt sein. Bei meinem Bruder in der Genossenschaftsüberbauung im trendigen Zürcher Stadtkreis 5 wird mit härteren Bandagen gekämpft. Die ständig lächelnde Frau Moser im Parterre übernimmt während der Ferien sehr zuverlässig die Betreuung des Kanarienvogels. Und auch den Briefkasten leert sie täglich. Im Verdeckten arbeitet sie aber auch für die Stadtpolizei. Wer länger als 90 Minuten in der blauen Zone parkiert, hat eine 40-Franken-Busse unter dem Scheibenwischer. Postwendend.

Thomas Renggli

Die Schweizer Leichtathletik im Argumentationsnotstand

Vor einigen Wochen noch strahlte die Schweizer Leichtathletik im hellsten Glanz. Nun steht sie vor einem Scherbenhaufen. Nachdem die Fabelzeiten des Sprinters Alex Wilson an einem Provinzmeeting in den USA zunächst noch mit einer zu kurzen Bahn oder unpräziser Zeitmessung erklärt wurden, scheint der wahre Grund das ganze Schlamassel aufzudecken: Wilson war gedopt!

Der Sportler ist fassungslos und erklärt den positiven Befund mit kontaminiertem Rindfleisch, das er in rauen Massen verzehrt habe. Soll man das Glauben? Eher nein! Schliesslich sagte Wilson schon bezüglich seinen phänomenalen Bestzeiten sowie der Zusammenarbeit mit dem lebenslang gesperrten jamaikanischen Trainer Raymond Stewart nicht die ganze Wahrheit.

Mit der phantasievollen Erklärung für seinen positiven Test ist Wilson in bester Gesellschaft. Die Auswahl an faulen Ausreden in Sachen Doping ist länger als die Liste der verbotenen Substanzen: Sie reicht von schlechtem Fisch über Manipulation durch Gegner bis zu verseuchter Zahnpasta. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Belgiens Rad-Idol Frank Vandenbroucke erzählte den Dopingfahndern, die verbotenen Asthmamittel seien für seinen Hund bestimmt gewesen. Der amerikanische Sprinter Dennis Mitchell führte seine erhöhten Testosteronwerte auf eine wilde Liebesnacht und den üppigen Bierkonsum zurück. Martina Hingis erklärte den positiven Kokainbefund mit der Unzulänglichkeit des Barkeepers: „Jemand hat es mir in den Orangensaft getan.“

So oder so: Die Schweizer Leichtathletik hat ein Problem. Denn schon die Erklärung von Hürdenläufer Kariem Hussein zu seinem positiven Dopingbefund wirft mehr Fragen auf als dass sie beantwortet. Wie kann ein Arzt bezüglich der Zusammensetzung eines Medikamentes (Coramin) den Unwissenden spielen, das von vielen Wanderern und Hobby-Langläufern gegen Müdigkeit verwendet wird und auf dessen Packungszettel explizit davor gewarnt wird, dass es wegen der leistungssteigernden Wirkung von Nikethamid eine positive Dopingkontrolle bewirken kann?

Ist der Fall Hussein tatsächlich nur eine „Absurdität und Banalität“ wie es der Sportler selber an einer Online-Medienkonferenz sagte? Szenenkenner bezweifeln dies und werfen den Verdacht auf, dass die Coramin-Ausflucht bloss ein Ablenkungsmanöver sein könnte – dass Hussein tatsächlich Substanzen verwendet habe, die weit härtere Sanktionen nach sich ziehen würden. Als Arzt hat er schliesslich unbeschränkten Zugang zu allen Präparaten. Die Wahrheit wird man vermutlich nie erfahren. Denn der Leichtathletikverband und Swiss Olympic werden alles machen, um ihren früheren Vorzeigeathleten zu schützen. Die Geprellten sind die Zuschauer, die an die Illusion des fairen Wettkampfs glauben, die Leichtathletik, die in den vergangenen Tagen viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren hat – und letztlich auch Hussein selber, der neben seiner Sportkarriere auch die Zukunft als Arzt gefährdet. Denn wer möchte sich schon von einem Mediziner behandeln lassen, der nicht einmal die Nebenwirkungen von rezeptfrei erhältlichen Medikamenten kennt?

Thomas Renggli

Der Reisepionier

Ein Telefon, eine Idee. Hans Imholz (87) erfand den Städteflug und demokratisierte das Reisen. Wie der Sohn eines Bäckermeisters eine der erfolgreichsten Schweizer Wirtschaftsgeschichten schrieb.

Ausschweifende Partys und überbordenden Feiern waren nie das Ding von Hans Imholz: „Dafür fehlten mir Zeit und Lust.“ Selbstdisziplin und Eigenverantwortung standen dem Bäckersohn aus der Zürcher Altstadt immer näher als gesellschaftliche Anlässe oder öffentliche Auftritte. Auch an die geschäftsfördernde Wirkung eines Businesslunches glaubt er nicht: „Ich habe Privates und Berufliches stets getrennt“. Dazu gehörte, dass er das Zeitfenster fürs Mittagessen sehr knapp hielt: dreissig Minuten für ein Birchermüesli und eine Tasse Kaffee im Café Arcade an der Birmensdorferstrasse 67 – unweit seiner Firmenzentrale. „Nicht einmal ein Glas Wasser hat er sich gegönnt“, sagt Ehefrau Doris Imholz (73) lachend.

Ende September 2006 war dann aber alles anders. Aus Anlass des 45. Geburtstags seines Unternehmens lud der Patron die ehemaligen Mitarbeiter zu einem grossen Fest in die Zürcher Maag-Halle ein: „Ich hatte das Bedürfnis, meine früheren Weggefährten wieder einmal zu sehen und mit ihnen über die guten alten Zeiten zu sprechen.“ Auf ein grosses Unterhaltungsprogramm verzichtete Imholz nicht nur aus Kostengründen: „Die Leute wollten ja vor allem miteinander reden.“

Insgesamt kamen an jenem Abend über 500 Gäste nach Zürich-West. Dabei war auch eine grosse Dichte an Prominenz. Denn so mancher späterer Schweizer Erfolgsmanager hatte in seiner Jugend das erste Geld als Reiseleiter bei Imholz verdient. Beispielsweise Thomas Kern, der langjährige CEO der Globus-Gruppe. Er jobbte von 1976 bis 1979 während seines Studiums als Reiseleiter für Imholz. Wie er sagte, sei­ die Juristerei nicht allzu streng gewesen und habe Raum für andere Aktivitäten gelassen. Oder Walter H. Diggelmann, der spätere Direktor der Swiss-American Chamber of Commerce. Er verdiente sich 1963/64 mit der Führung von Touristengruppen durch europäische Städte sein Studium.

Auch der nachmalige Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät machte seine ersten Schritte im Berufsleben zwischen 1972 und 1978 als Imholz-Tourguide. Der vielleicht berühmteste Reiseleiter in der Imholz-Geschichte war aber Roger Schawinski. Der spätere Medienpionier fand das Tor zur grossen weiten Welt nur einen Steinwurf von der Wohnung seiner Eltern entfernt. Schawinski, damals 21 Jahre alt, voller Tatendrang, aber als Student ohne eigene Mittel, trat ins Grossraumbüro, um sich als Reisleiter zu bewerben: „Ich hatte keine Ahnung vom Metier, aber ich wollte die Welt sehen.“

Bei Hans Imholz sei ihm sofort die pragmatische und effiziente Arbeitsmethode aufgefallen: „Er sass am Ende des Grossraumbüros an einem grossen Schreibtisch und war pausenlos am Telefon – um ihn herum waren fünf sechs junge Mitarbeiter versammelt, die Reiseunterlagen präparierten und in Couverts packten.“

In gewissen Sinne markierte der Jubiläumsanlass 2006 aber auch einen Schlusspunkt – und erzeugte eine Spur Wehmut und Melancholie. Denn nur kurz davor hatte der deutsche Konzern Tui die Marke Imholz vollständig integriert und den Namen Imholz faktisch aus der Reisewelt gelöscht. Der Firmengründer verfolgte diesen Prozess schon damals mit zwiespältigen Gefühlen: „Wer sein Geschäft verkauft, hat danach zwar kein Mitspracherecht mehr. Aber die Marke Imholz hätte weitaus mehr Möglichkeiten geboten – wenn man den Namen gepflegt hätte.“

Die Sehnsucht nach Schweizer Werten

Mit weiteren 15 Jahren Abstand wird Hans Imholz noch deutlicher: „Die Namensänderung und die Streichung der Marke Imholz waren Riesenfehler. Heute sehnen sich die Menschen nach verlässlichen Schweizer Werten – und dafür stand der Name Imholz.“ Er habe eigentlich immer damit gerechnet, dass sein Unternehmen ihn überleben werde.

Die Erfolgsstory von Hans Imholz hatte 1961 an der Usteristrasse im Zürcher Kreis 1 begonnen. Der frühere Kuoni-Angestellte, 27 Jahre jung und durch seine Lehrjahre beim Branchenkrösus mit der Materie bestens vertraut, mietet eine Zweizimmerwohnung und wagt den Schritt in die Selbständigkeit. Belegschaft: eine Sekretärin. Kerngeschäft: Organisation von Vereins- und Verbandsreisen. Dabei wartete er nicht, bis die Kundschaft zu ihm kam. Er durchstöberte Zeitungen und Verbandsorgane und stiess auf Reisevorhaben von Vereinen und Gruppen und erstellte gleich selber ein attraktives Angebot. Sein Erfolgsgeheimnis bestand auch immer in einem ausgeprägten wirtschaftlichen Realismus. Hans Imholz war nie ein Gambler oder Glücksritter. Acht Jahre hatte er jeden Franken zur Seite gelegt und besass nun 50‘000 Franken, um das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen – und zwar sprichwörtlich: „Ich habe nie auch nur einen Rappen von einer Bank bezogen“, sagt er heute, „ich wollte immer Herr über meine Lage sein.“

Seine Schlüsselidee war ebenso simpel wie bahnbrechend: Telefonverkauf. Damals eine Kulturrevolution wie vier Jahrzehnte später das Internet. Dazu kam eine Reiseform, die damals noch völlig unbekannt war: Städtetrips. Rückblickend sagt Hans Imholz: „Mit preisgünstigen Städteflügen weckte ich bei den Konsumenten Appetit auf eine Kurzreise in eine Stadt.“

1981 feierte das Reisebüro seinen 20. Geburtstag Ein Blick in die Jubiläumsbroschüre wirkt wie eine Zeitreise in ein anderes Leben – ein Leben mit Drehscheibentelefonen, elektrisch Schreibmaschinen und einem unförmigen IBM-Personal-Computer als Vorbote der Moderne. Zu der sich sanft andeutenden Digitalisierung steht: „Ein fortschrittliches Unternehmen ist zu allen Investitionen bereit, wenn dadurch der Dienst am Kunden verbessert werden kann“.

Doch im Zentrum blieb das Telefon – in seiner sperrigen schwarzen „Ur-Version“, wie es in den 1970-er Jahren von Emil Steinberger zum Kultobjekt befördert wurde. Hans Imholz posierte mit weissem Hemd, adrett gebundener Krawatte und graubraunem Sakko freundlich lächelnd mit der Hand auf dem Hörer. Daneben wurden die statistischen Details zum Boom der Telekomunikation geliefert: „Wie weitsichtig der Entscheid zum Telefon-Direktverkauf für Reisen und Ferien war, zeigt die Statistik über die Anruffrequenz in unserem Unternehmen: Allein im vergangenen Jahr (1980) erhielten wir rund 410‘000 Anrufe!“

Imholz nahm auch werbetechnisch das Schicksal in die eigenen Hände: „Alles, was in den Prospekten und in den Inseraten zu lesen war, stammte aus meiner Feder“. Von PR-Beratern oder Kommunikationsfachleuten hielt er nicht viel: „Das konnten wir selber ebenso gut – und erst noch billiger.“ Und die „unschlagbaren“ Preise waren ein Trick zur Kundenwerbung: „Das waren Ausgangsbeträge. Verdient haben wir mit den Extras.“

1967 landete er seinen ersten grossen Coup. Drei Tage Budapest bot er für sagenhafte 198 Franken an. Dieses Schnäppchen wurde dank einem schlauen Deal mit der ungarischen Fluggesellschaft Malev möglich. Um die Flugzeuge auszulasten, bot die Airline dem Schweizer Reispionier das Retourticket für 73 Franken an. Ein Bruchteil des offiziellen Verkaufspreises von 655 Franken. Und die auf Devisen erpichten ungarischen Hoteliers machten für harte Währung hochattraktive Preise. Imholz lieferte weitere attraktive Sonderangebote. Bald war das Zugticket im Arrangement inbegriffen. Und er erfand das Rabattsystem, lange bevor es Cumuluskarten und Superpunkte gab. Auf dem Hochglanzplakat von damals hiess es: „Jede Buchung am Telefon prämieren wir mit einem Telefonrabatt von 20 Franken auf unsere ohnehin schon günstige Preise.“ Dies ermöglicht vielen Schweizern ein völlig neues Ferienerlebnis. Wohl nicht wenige verdankten ihren ersten Flug der neuen preislichen Freiheit.

Der Imholz-Geist

Und auch die Angestellten von Imholz erlebten ein Gefühl, das sie vorher nicht kannte. Willy Noser, Weggefährte der ersten Stunde, spricht vom „Imholz-Geist“ und einer Aufbruchsstimmung, wie sie damals einzigartig war: „Wir entwickelten innerhalb unseres Unternehmens einen unheimlichen Zusammenhalt. Es war wie in einer erfolgreichen Fussballmannschaft. Jeder fühlte sich als wichtiger Teil des Puzzles.“ Dies sei auch auf den Führungsstil des Chefs zurückzuführen gewesen: „Hatte Hans Imholz Vertrauen in einen Mitarbeiter gefasst, schenkte er ihm grosse Freiheiten und liess ihn auch die eigenen Ideen einbringen.“ Was Noser ebenfalls noch heute beeindruckt: „Imholz gab jedem eine Chance, egal woher er kam.“ Auf Dinge wie akademische Weihen oder Studienabschlüsse habe er keinen Wert gelegt: „Was zählte, war die Leistung.“

Der Pilger-Trick

Dazu gehörte ein ausgeprägtes Improvisationstalent in der Reiseleitung – beispielsweise bei den ersten Charterflügen nach Israel. Noser erzählt: „Wir besassen die Flugrechte nach Eilat am Roten Meer. Doch unser Ziel war es, auch Reisen nach Tel Aviv anbieten zu können.“ Imholz setzte diesen Plan unkompliziert um und schrieb die Arrangements aus – obwohl er die Landeerlaubnis noch nicht besass. Selbst vier Tage vor Reiseantritt fehlte das wichtigste Papier. Als die Zeit allmählich knapp wurde, formulierte Hans Imholz den Reisegrund der Gruppe neu. Er erklärte dem israelischen Verkehrsministerium, dass er eine Gruppe von christlichen Pilgern ins Heilige Land bringe. Die Finte gelang. In Tel Aviv schalteten die Ampeln für Imholz quasi über Nacht auf grün. „Wir gaben aber jedem Kunden ein Pilgerbüchlein mit“, erklärt Noser die flankierenden Massnahmen.

Diese Episode bringt den Erfolg von Hans Imholz auf den Punkt. Der Vollblutunternehmer besass das Gefühl für geschäftliche Entwicklungen und ein situatives Gespür wie kaum ein zweiter. Stellvertretend sagt der frühere Kuoni-Chef Kurt Heiniger: „Hans Imholz hat uns damals alle vorgeführt.“ 60 Jahre nach Firmengründung lächelt der Angesprochene sanft. Beweisen muss er sich schon lange nichts mehr. Zusammen mit seiner Doris lebt er zurückgezogen an der Zürcher Goldküste und erfreut sich an Besuchen im Kunstahaus und in der Tonhalle. Und dank einer soeben erschienen Biographie kann er sich einen alten Menschheitstraum erfüllen: die Reise zurück in die Vergangenheit. „Ich erlebe meinen beruflichen Erfolg gerade nochmals“, sagt er und lächelt ebenso zufrieden wie eine berühmte Figur aus der Märchenwelt: Hans im Glück!

„Hans Imholz – Der Reisepionier“ Thomas Renggli. Mit einem Vorwort von Michael Ringier. 256 Seiten, 16×23cm, gebunden, Hardcover, mit zahlreichen Bildern. ISBN 978-3-03922-105-9 CHF 39.– | EUR 30.–

«Pöstli» Arosa: Arno del Curto steigt ein!

Spektakulärer Transfer im Bündnerland. HCD-Legende Arno Del Curto (64) baut das Posthotel in Arosa neu auf.

Text: Thomas Renggli, Fotos: Keystone

DEL CURTO, DER QUEREINSTEIGER. Er gewann mit dem HC Davos sechsmal die Meisterschaft und fünfmal den Spengler-Cup. Dreimal wurde er zum Trainer des Jahres gewählt. Der 64-jährige Engadiner Arno Del Curto ist im Schweizer Eishockey eine lebende Legende. Nun will er Knowhow, Beziehungsnetz und Verkaufstalent in die Gastronomie einbringen – als Gesicht der Neulancierung des Posthotels Arosa. Im Dezember 2016 bei einem Brand vollständig zerstört, hat das bekannte Gasthaus eine grosse Lücke im Ortsbild hinterlassen. Jetzt soll diese geschlossen werden. Wird die Baubewilligung rechtskräftig, fahren im Mai die Bagger auf. Bis in zwei Jahren soll am See das neue Hotel stehen.

IM «PÖSTLI» GING DIE POST AB. Der Relaunch des Posthotels ist eine Story von historischen Dimensionen. Die Geschichte des Hauses geht bis ins Jahr 1928 zurück. Damals wurde auf Initiative der PTT beim Bahnhof das topmoderne Hotel errichtet – unter anderem, um darin eine geographisch gut gelegene neue Poststelle unterzubringen. Die Post ging später vor allem im legendären «Pöstli» ab. Wer in Arosa die Nacht zum Tag machen wollte, kam nicht ums Posthotel herum. Nun soll diese Tradition wieder aufleben. Geplant sind 30 bewirtschaftete Hotelsuiten mit je dreieinhalb Zimmern, eine grosse Spa- und Wellness-Zone sowie ein exklusiver Restaurantbereich.

Am 30. Dezember 2016 stand das berühmte Posthotel Arosa in Flammen. Jetzt wird ein neues Projekt umgesetzt, mit Eishockey-Ikone Arno del Curto.

WER STEHT IN DER SHOWKÜCHE? Die hauseigene Gastronomie soll eine neue kulinarische Qualität in den Ferienort tragen. Mit einem bekannten Zürcher Unternehmer hat man sich in allen wichtigen Punkten über die Zusammenarbeit geeinigt. Weil die Verträge aber noch nicht unterschrieben sind, werden weder Namen noch Rollenverteilung genannt. Wer aber Del Curtos situatives Gespür und seine Motivationskünste kennt, hat keine Zweifel, dass das gastronomische Line-up Spektakel und Volltreffer garantiert. 

SPORTFÖRDERER ALS SENIORPARTNER. Der Hauptinvestor hinter dem Projekt steht für Stabilität, Qualität und unternehmerische Erfolge: Marcel Niederer. Der Sohn eines St. Galler Wirtepaars wurde mit dem EHC Biel einst selber zweimal Eishockeymeister und später als Sponsor der Tennisspielerin Belinda Bencic einer der wichtigsten Sportförderer des Landes. Die Corona-Krise sieht er nicht als Risiko sondern als Chance – weil die Menschen die Ferien vermehrt in der Schweiz verbringen und Angebote, die gehobenen Komfort und den Rückzug in die Privatsphäre ermöglichen, hoch im Kurs stehen. 

«Pöstli» Arosa: Arno del Curto steigt ein! | GaultMillau – Channel

https://arosalenzerheide.swiss/de/Region/Arosa

WM-Absage für Weissrussland: Eine scheinheilige Diskussion

Der Internationale Eishockey-Verband hat sich dem öffentlichen Druck gebeugt und dem weissrussischen Verband die WM 2021 entzogen. Gilt dieser Massstab in Zukunft flächendeckend, geraten viele Sportverbände in Argumentationsnotstand.

Das Bild, wie der weissrussische Diktator Aleksander Lukaschenko den Präsidenten des Internationalen Eishockey-Verbandes, den Schweizer René Fasel, vergangene Woche in Minsk umarmte, ging um die Welt.

Das Foto war von der Regierung Belarus als Propagandamittel in eigener Sache vorgesehen gewesen. Nun erweist es sich als Eigentor. Durch das Bild gerieten Fasel und sein Verband derart unter Druck, dass sie vier Monate vor dem ersten Bully die Notbremse zogen und Weissrussland als Co-Veranstalter vom Feld schickten.

Das Turnier soll nun entweder ausschliesslich in Lettland stattfinden – oder allenfalls in Dänemark oder in der Slowakei.

In der offiziellen Mitteilung schreibt die IIHF von «Sicherheitsproblemen, die nicht in ihrer Kontrolle liegen». Deshalb bezieht sie sich auf  einen Paragraphen in ihrem Reglement, der es ihr erlaubt, einem Veranstalter die WM zu entziehen, wenn «das Wohlbefinden und die sichere Bewegungsfreiheit von Spielern, Offiziellen, Fans und Medienvertretern in Frage gestellt sind».

Der Entscheid ist aufgrund der Entwicklung der vergangenen Tage keine Überraschung. Trotzdem könnte er einem Präzedenzfall gleichkommen, der diverse Verbände in Erklärungsnot bringt.

Werden internationale Sportveranstaltungen künftig auf Länder beschränkt, in denen die Menschenrechte eingehalten werden, könnte die Handball-WM derzeit kaum in Ägypten stattfinden – und die Bahnrad-WM im kommenden Oktober auf keinen Fall in Turkmenistan.

Die olympischen Winterspiele 2022 müssten ebenso aus China abgezogen werden wie die Fussball-WM aus Katar. Das grösste Problem hätten die Grossmächte USA und Russland. Doch an ihnen gibt es aus wirtschaftlichen und politischen Gründen in Zukunft kaum einen Weg vorbei. Da ist es doch viel weniger schmerzhaft, an Belarus ein Exempel zu statuieren.

WM-Absage für Weissrussland: Eine scheinheilige Diskussion (weltwoche-daily.ch)

Auf ein Sandwich mit Ilona Schmiel

Die Intendantin der Tonhalle Zürich hat Vorurteile überwunden und wünscht sich, dass der Mut die Frustration verdrängt.

Essensverabredungen im Restaurant sind derzeit schwierig umsetzbar. Ilona Schmiel (52), die Intendantin der Zürcher Tonhalle, schlägt eine unkomplizierte Alternative vor: „Kommen Sie doch zu uns die in die Tonhalle-Maag – und wir kaufen etwas in einem Take-away.“ So setzen wir uns im „Klangsaal“ in gebührendem Abstand auf Holzstühle, funktionieren die Notenpulte zu Picknicktischen um und beissen in ein Käsesandwich: „In Zeiten wie diesen muss man lernen zu improvisieren“, sagt Ilona Schmiel und entschuldigt sich, dass „wir hier so dezimiert essen müssen“.

Dann beginnt sie zu reflektieren: „Wenn wir etwas Positives aus dieser Situation mitnehmen können, ist es die erhöhte Flexibilität. So kommt man aus alten Rollenmustern heraus. Man denkt über die Zukunft in geraffter Zeit nach. Alle Herausforderungen, die wir schon vor der Pandemie hatten, haben sich wie unter einem Brennglas verschärft. Und dies ist eine interessante Situation und ein Zustand, den man als Chance wahrnehmen muss.“ In einer Lage, die man nie für möglich gehalten hätte, sei man nun gezwungen, viel schneller über die Zukunft nachzudenken: „Als wir vor einem Jahr in diesem Raum sassen, waren wir kurz davor, zu einer kleinen Tournee in Europa aufzubrechen – nach Innsbruck, Wien, Budapest und Dortmund. Damals hielten wir diese Reise für ein Projekt mit normalem Aufwand. Heute wäre sie mit einem Orchester, mit Solisten, mit dem ganzen Staff logistisch, reisetechnisch, visatechnisch und quarantänetechnisch nahezu unmöglich.“ Die Tonhalle macht aus der Not eine Tugend. Schmiel treibt mit Chefdirigent Paavo Järvi und dem Orchester die im Herbst begonnen Aufnahmen der Tschaikowsky-Sinfonien weiter voran. So oder so befindet sie sich derzeit fast permanent im „Standby-Modus“. Dies galt auch, als im Sommer der Betrieb vorübergehend wieder hochgefahren wurde: „Paavo Järvi flog sofort aus London ein. Ich holte ihn am Flughafen ab – und fand eine Empfangshalle vor, wie ich sie noch nie erlebt hatte: nur zwei Personen waren dort.“

Ilona Schmiel lacht während des improvisierten Lunches viel und herzlich. Sie verströmt Energie und Optimismus. Dabei durchläuft sie momentan die wohl schwierigste Zeit ihrer beruflichen Karriere. Denn eigentlich stellt allein die Maag-Halle als Exil während der Renovation der Tonhalle am See ein Ausnahmefall dar: „Wir befinden uns seit September 2017 hier – und betreiben einen Spielort, den wir grössten Teils selber finanzieren. Wir erhielten von der Stadt Zürich 1,65 Millionen Schweizer Franken. Der grosse Rest dieses Zwölfmillionen-Franken-Gebäudes ist privat akquiriert und von der Tonhalle-Gesellschaft finanziert worden.“ Es stecke sehr viel Herzblut und Eigenleistung in dieser Lokalität: „Wir liessen in eine Industriehalle eine Box aus 90 Tonnen Fichtenholz einbauen. Wir investierten nur das Nötigste in den neuen Saal. Alles, was Luxus sein könnte, fiel weg. Natürlich ist es ein Provisorium – aber ein erstklassiges.“ Alle – Publikum, Mitarbeiter, Orchester, Gastkünstler – seien begeistert von der Akustik und vom Ambiente. Auch das Umfeld im früheren Arbeiterquartier passt: „Wir profitieren davon, dass sich der ganze Kreis 5 veränderte und die früheren Industriegebäude sukzessive einem neuen Nutzen zugeführt werden. Wir haben hier ein hochkreatives Umfeld gefunden – ein lebenswertes und lebendiges Viertel. Wir sind hier wohl näher bei den Menschen als im Kreis 1 – und auch sehr nahe bei der Hochschule der Künste. Dies ist eine besonders schöne Konstellation.“ Ob die Tonhalle Maag bleibt, sei offen: „Es ist ein sehr schöner Saal, aber wir können ihn nicht selber betreiben. Das Rennen läuft – aber wir sind daran nicht beteiligt.“

Es war am 3. November 2012, als Ilona Schmiel in Zürich ihren ersten Auftritt hatte – an der Medienkonferenz, an der sie als künftige Intendantin der Tonhalle-Gesellschaft Zürich vorgestellt wurde. Es war ein ungewöhnlich gut besuchter Anlass. Schmiel erinnert sich:  „Viele Persönlichkeiten aus dem Umfeld der Tonhalle und aus der Zürcher Kultur traten mir von Anfang an ohne Vorurteil und mit offenem Geist entgegen.“ Doch es habe auch andere Reaktionen gegeben – und die Fragen: Wo kommt sie her? Weshalb ist sie hier? Weshalb eine Frau? Und weshalb nicht eine 60-jährige Person? Schmiel schüttelt den Kopf:  „Es standen durchaus Vorurteile im Raum. Aber diese haben mich mein Leben lang begleitet. Ich war mit 30 Jahren Intendantin des Konzerthauses Glocke in Bremen – ebenfalls als erste Frau.“ Die Frage, ob Mann oder Frau, spiele für sie aber nie eine Rolle: „Der Beste oder die Beste muss zum Zug kommen.“ Schmiel denkt, dass sich in der Schweiz seit 2012 vieles geändert habe – Im Positiven. So sieht sie sich heute auch als Mentorin in Fragen der Chancengleichheit – für jüngere Frauen, die ebenfalls in Führungsrollen wollen.

In der Stadt Zürich erkennt Ilona Schmiel in Sachen Kultur „ein hochqualitatives und variantenreiches Angebot.“ Mit Opernhaus, Schauspielhaus, Kunsthaus und Tonhalle in nächster Nähe sei hier eine Ansammlung von hochwertigen Kulturinstitutionen zu finden, wie sie kaum an einem anderen Ort vorkomme. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass der Mut und nicht die Frustration wieder in den Vordergrund rückt: „Wenn man der Pandemie in unserem Sinne etwas Gutes abgewinnen kann, ist es die Erkenntnis, wie sehr wir die Livemusik vermissen. Kultur ist für alle da – und es braucht sie für die Seele und für die Identifikation.“ Sie sei der festen Überzeugung, dass die Menschen gestärkt aus der Krise zurückkommen – und dass die Kultur aufblüht. Zum Abschied sagt Ilona Schmiel beim Künstlereingang der Tonhalle: „Eine Gesellschaft, die nicht mehr singt, kann ich mir nicht vorstellen.“