Er war der erste Kinderstar des Schweizer Films. Heute geht er in der Rolle als Grossvater auf.
Thomas Klameth öffnet die Türe zu seiner Wohnung in Küsnacht mit einem Lachen: „Kommen Sie rein. Das Timing stimmt. Mein Putzinstitut war soeben da“. Der 77-Jährige verströmt Schalk und Empathie und noch immer Spuren jenes Spitzbubenhaften, das ihn vor 69 Jahren zum ersten Kinderstar des Landes machte: zum Geissenpeter im Heidi-Film.
Rund 3000 Schüler bewarben sich damals für diese Rolle. „Das Wort Casting existierte noch nicht“, erzählt Klameth. Weil er sich im Schulzimmer beim Besuch der Filmemacher vordrängte und sofort durch Neugier und Natürlichkeit auffiel, erhielt er den Zuschlag. Es sollte ein Ereignis sein, das sein Leben nachhaltig veränderte – nicht finanziell: für den ersten Film „Heidi“ erhielt er eine Gage von 700 Franken, für den zweiten „Heidi und Peter“ 5000 Franken. Doch der Erfolg machte ihn im ganzen Land bekannt – und das „völlig unvorbereitet“ wie er sagt. „Alle wollten mir vom Film erzählen, dabei kannte ich ihn ja selber am besten.“ Der Hype ging bis über den Atlantik. Als „Heidi“ in den USA anlief, wurden Thomi und die Heidi-Darstellerin Elsbeth Sigmund in die Staaten geflogen und während elf Tagen von Termin zu Termin geschleppt. Für Klameth zu viel: „Ich wurde so stark in meinen Freiheiten eingeschränkt, dass eine Karriere als Schauspieler für mich nie in Frage kam.“
Stattdessen machte er sein Hobby, den Sport, zum Beruf – als Besitzer eines Sportgeschäftes in Küsnacht. Heute blickt Thomas Klameth mit stolz auf seine Zeit als Kinderstar zurück. Gerade über die Festtage habe er „Heidi“ wiedergesehen und dabei feststellen dürfen: „Der Geissenpeter macht seine Sache sehr gut.“ Mit Elsbeth Sigmund hat er den Kontakt bis heute gehalten. Ausserdem spielt er Golf, trainiert regelmässig auf dem Hometrainer, ist freundschaftlicher Ratgeber seines Sohnes, des Filmemachers Stefan Klameth, und stolzer dreifacher Grossvater. Damit könnte sich der Kreis schliessen: „Vielleicht ist ja ein Geissenpeter unter den Enkeln“, sagt Klameth und lächelt verschmitzt. Fast wie damals auf der Leinwand. TRE
Radsporthochburg Maur. In den 1970-er und 80-er Jahren blickte die Sportwelt einmal pro Jahr nach Ebmatingen. Und ein Weltmeister machte Dreck zu Gold.
Quer ist das Gegenteil von gerade und deshalb ein vorwiegend schräger und negativer Begriff. Die Querköpfe, Querschläger und Querulanten sorgen immer wieder für Querelen. Im mexikanischen Querétaro wurde 1867 sogar ein richtiger Kaiser standrechtlich hingerichtet.
Doch bekanntlich ist keine Regel ohne Ausnahme. Es gibt auch die positiven Querseiten – beispielsweise das musikalische Können der Querflötisten oder die Pedalkraft der Querfeldeinfahrer. In der moderne des Radsports werden diese zwar dem Cyclocross zugeschrieben – was nach einer Mischung aus griechischer Sage und mathematischer Gleichung tönt. Doch am wichtigsten hat sich in der agrarischen Sportkultur nichts geändert. Querfeldeinfahrer wollen mit Dreck ihre Erfolgsbilanz aufpolieren.
Dies war einst auch in der Gemeinde Maur so. Junge Radrennfahrer fühlten sich im Veloclub Uster unterecht behandelt und gründeten 1971 mit 16 anderen Radsportenthusiasten in der Schifflände Maur den Veloclub Forch. Erster Präsident war der erfolgreiche Maurmer Querfeldeinfahrer Fredi Stucki; nach ihm übernahm der Ebmatinger Roland Zinnert das Kommando. Der junge Verein trat sofort kräftig in die Pedalen, stellte zeitweise sechs lizenzierte Querfeldeinfahrer und bereicherte noch im Gründungsjahr den Schweizer Sportkalender um ein nationales Quer. Es sollte jener Anlass werden, der Ebmatingen faktisch auf die Sportlandkarte der Schweiz setzte. Zunächst fand das Quer aber in der Umgebung des Forchdenkmals statt.
Querfeldein war damals so etwas wie die „Nationalsportart“ im Zürcher Oberland. Entsprechend positiv fiel das Echo in den Medien aus. So positiv, dass sogar die Regierung des Kantons Zürich davon Wind bekam und ein hochoffizielles Verbot erliess. Es entspreche nicht dem Charakter einer Gedenkstätte wie dem Forchdenkmal, wenn in unmittelbarer Nähe ein Sportanlass durchgeführt werde. Widerspruch zwecklos!
Der VC Forch schluckte die bittere Pille, verabschiedete sich vom „entwürdigten“ Monument und suchte einen neuen, nicht denkmalgeschützten Tatort. Er fand ihn zwischen Binz und Ebmatingen – vorwiegend auf den „Ländereien“ der Familien Gut und Bantli, im Bereich Hasenbüel, Süessblätz, Leeacher. Doch auch dieser Parcours war von beschränkter Nachhaltigkeit.
Denn Ebmatingen wuchs und wuchs. Aus grünen Wiesen wurden mehr oder weniger schmucke Einfamilienhäuser mit mehr oder weniger gepflegten Vorgärten. Sie verdrängten den rustikalen Wald- und Wiesensport an die Peripherie des Dorfes – in Richtung Aesch.
Start und Ziel war fortan auf der Aeschstrasse, Fortsetzung kreuz und quer, bergauf, bergab, auf Asphaltstrassen, Wald- und Feldwegen, mitten durchs Gehölz. Die Festwirtschaft sorgte beim Schulhaus Looren für gute Laune und den überlebenswichtigen Umsatz. Auf dem 2,3 Kilometer langen Rundkurs, der von der Elite neunmal zu absolvieren war, massen sich die besten Querfahrer von nah und fern. Dazu gehörte auch Harald Grab, der heute an der Steimüristrasse 2 ein populäres Radsportgeschäft betreibt. Er erinnert sich mit einem leichten Frösteln: „Das Rennen fand in der Regel im Januar direkt vor den Schweizer Meisterschaften statt – bei normalerweise kalten Wetter. Oft waren die Räder so stark eingefroren, dass man sie vor dem Reinigen in der Scheune des Bauernhofs auftauen musste.“
Sportlich erwärmte das Velofest die Ebmatinger. Zwischen 1971 und 1988 fand es 13-mal statt (einmal international, einmal als Schweizer Meisterschaft). Der Ustermer Sportveranstalter Urs Ryffel, Gründungsmitglied des VC Forch, verdienten sich als OK-Präsident Meriten. Sein jüngerer Bruder Markus quälte sich in Ebmatingen dreimal durch den winterlichen Morast – ehe er sich definitiv für die Leichtathletik entschied, 1984 in Los Angeles über 5000 Meter Olympiasilber gewann und in Ebmatingen zum Ehrenstarter befördert wurde.
Am 25. September 1988 begrüsste Gemeindepräsident Robert Rietiker im Programmheft die Ebmatinger Querfamilie, wie sich später herausstellte, zum allerletzten Mal: „Politisch gehört der Ort des Geschehens, das Gebiet Benkelsteg/Looren, zur Gemeinde Maur; er liegt fast in der Mitte zwischen den Ortsteilen Forch, Binz/Ebmatingen und Maur. Mit dieser Feststellung möchte ich sie animieren, sich in unserer stattlichen Gemeinde etwas umzusehen.“
Die grossen Schlagzeilen machten aber nicht die landschaftlichen Vorzüge, sondern die Stars von damals. Viermal siegte in Ebmatingen der fünffache Weltmeister Albert Zweifel aus Rüti, je dreimal triumphierten Peter Frischknecht und Hermann Gretener, zweimal stand Erwin Lienhard zuoberst auf dem Podest und einmal Beat Wabel. Bis zu 4000 Zuschauer säumten die Strecke. Doch ausgerechnet die einzige internationale Austragung fand bei beissender Kälte, garstigem Eisregen, dichtem Schneetreiben und heftigen Sturmböen statt. Viele Zuschauer blieben zuhause – was dem Veloklubkassier einige schlaflose Nächte eintrug. Zum finanziellen Balanceakt gesellte sich immer öfter die Schwierigkeit, genügend freiwillige Helfer zu finden. So kam es, wie es kommen musste – und wie es vielen anderen Sportveranstaltungen gleich erging. Was 1971 mit viel Enthusiasmus begonnen hatte, endete 1988 mit dem Hissen der weissen Fahne. 32 Jahre später ist das Radquer von Ebmatingen Schnee von vorgestern. Der Quersport aber erlebt eine sanfte Renaissance. Im vergangenen Februar fanden auf dem Gelände des Militärflugplatzes Dübendorf zum ersten Mal seit 25 Jahren die Weltmeisterschaften wieder in der Schweiz statt. Und dabei riefen die Querfahrer in Erinnerung, was in den 1970-er und 1980-er Jahren zum Schweizer Allgemeinwissen zählte: Sie besitzen eine Gabe, die an König Midas aus der griechischen Sagenwelt erinnert. Sie können Schlamm und Dreck zu Gold machen.
2020 ist Vergangenheit. Und nun kann es tendenziell nur in eine Richtung gehen: steil aufwärts! Das betrifft auch die Leibesertüchtigung ausserhalb von Fitnesszentren.
Was war 2020 bloss für ein Jahr? Und weder Frau Tessier noch Madame Etoile sahen es kommen. Eishockey-WM abgesagt, Olympia und Fussball-Euro storniert, die Tour de Suisse fand im Wohnzimmer statt- und der Spengler Cup auf der Gamekonsole. Wie haben wir bloss die Festtage ohne Nachmittagseishockey überlebt? Doch nicht nur der Sport geriet aus den Fugen. Der Tourismus wurde eingefroren, die Swiss auf dem Flugfeld Dübendorf, wo unlängst noch die Radquer-WM stattfand, gegroundet. Wenn man heute am Himmel ein Flugzeug sieht, denkt man es sei ein Ufo. Oder frei nach ET: „Telefonieren nach Hause“.
Und aus Bern und Umgebung kamen (und kommen) die Hiobsbotschaften und Endzeitszenarien im Tagesrhythmus (nicht nur vom SCB). Immerhin wissen wir mittlerweile: Herr Koch hat uns brandschwarz angelogen, aber Alain Berset überlebt zumindest als Hut-Model jede Krise. Und die Sache mit dem ominösen R-Wert ist ohnehin ganz anders. Glauben Sie nichts, was Sie in den Zeitungen lesen. Am nächsten Tag beginnt alles von Neuen.
So ist noch immer alles irgendwie surreal. Die Medien verzeichnen Einschaltquoten auf Rekordniveau – und trotzdem droht die grosse Konkurswelle. Und als man dachte, schlimmer geht’s nimmer, begann Steffi Buchli zu singen. Zero Points. Zéro Point. Null Punkte.
Doch es gibt auch Funken der Hoffnung. Die Grasshoppers stürmen auf dem Fussballplatz mit chinesischem Geld und portugiesischer Power in Richtung Super League. Die Fussball-Nationalmannschaft hat doch noch ein Spiel gewonnen (Corona sei Dank) – und die Eishockey-Junioren verhinderten den Abstieg an der WM, ohne einen einzigen Punkt zu holen (Covid19 war die beste Verteidigung).
Nun ist auch von uns Hobbysportlern Krisenfestigkeit gefordert. Wenn der Feierabendathlet beim Fitnesszentrum vor verschlossener Türe steht, die Laufgruppe aus pandemischen Gründen zum Stillstand gezwungen ist und selbst die Langläufer dem Virus nicht mehr entkommen, ist guter Rat teuer. Denn schliesslich wollen wir die guten Vorsätze mindestens bis in den März retten.
So halten wir es mit Goethe: „Warum in die Ferne schweifen? Das Gute liegt so nahe“. Das beste Übungsgelände beginnt im Treppenhaus des Mehrfamilienhauses oder direkt vor dem Home-office: Wer ab sofort einen Bogen um den Lift oder die Rolltreppe macht, tut schon sehr viel für seine Fitness. Gemäss einer britischen Analyse können bei einem 15-minütigen Treppenlauf 121 Kalorien verbrannt werden. Grundsätzlich gilt: Ein Stockwerk mit 20 Stufen killt fünf Kalorien.
Darüber können sich in der Schweiz vor allem die Angestellten des Pharmakonzerns Roche freuen. Sie haben exklusiven Zugang zum Restaurant im obersten Stock des höchsten Gebäudes der Schweiz – des 178 Meter hohen Roche-Turms in Basel. Dort erhalten sie zwar momentan nichts zu essen, doch sie besitzen die Möglichkeit für einen 41 Stockwerke dauernden Appetitanreger. So verbrennen sie im Idealfall über 200 Kalorien. Der Zürcher Prim Tower bringt es zwar nur auf 36 Stockwerke (180 Kalorien), doch er ist der Öffentlichkeit zugänglich und könnte somit auch den lahmenden FCZ-Kickern als Ziel für leistungssteigernde Trainingseinheiten dienen.
Die besten Aufstiegsmöglichkeiten bietet aber eindeutig Basel. Auch das dritthöchste Haus des Landes – der Messeturm – kratzt die Wolken am Rheinknie. 31 Stockwerke = 155 Kalorien.
Die englische Firma „Step-Jockey“ hat aus der gesundheitsfördernden Wirkung der physischen Etagenüberwindung ein Geschäft gemacht. Sie bringt in Treppenhäusern Schilder mit motivierenden Parolen wie „Treppensteigen verbrennt mehr Kalorien als Joggen“ oder „Treppensteiger haben ein stärkeres Herz“. Fussgelenksfrakturen oder Aussenbandrisse interessieren „Step-Jockey“ nicht.
Treppenlaufen macht glücklich. Und es ist nicht nur eine ausgezeichnete Möglichkeit, um wohlstandsverwahrloste Büromenschen aus der Festtagsstarre zu locken. Die Fortbewegung in der Vertikalen hat sich längst als Wettkampfform durchgesetzt: Seit 1978 wird in New York der „Empire State Building Run Up“ durchgeführt. Die Teilnahme ist allerdings nur auf Einladung der „New York Road Runners“ möglich und erfordert eine sportliche Qualifikation. In Toronto blickt der „CN Tower Climb“ auf eine ebenso lange Geschichte zurück. Der Hochhaus-Lauf mit der grössten Stufenzahl findet aber in Wien statt – der „Millenium Tower Run Up“. In drei Aufstiegen werden 2340 Stufen bewältigt – dazwischen geht’s jeweils mit dem Lift gelenk- und energieschonend bergab. Trotzdem bleibt ein Kalorienverbrauch von 585 Einheiten. Ein paar Stück Sachertorte liegen da als Dessert bestimmt drin.
Dies lässt uns – Pandemie hin oder her – mit Optimismus in die Zukunft blicken. Und da es für gute Absichten nie zu spät ist, erlaube ich mir, Ihnen hiermit für die nächsten Monate nur das Beste zu wünschen – und halte es mit dem guten alten Aristoteles: „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen“. Oder mit prosaischen Worten: „Alles ist endlich und endlich ist 2020 vorbei.“ 2021 wird garantiert viel viel besser. Hoffentlich!
Nach nur 56 Tagen muss der Circus Knie seine Tournee 2020 von einem Moment auf den anderen abbrechen. Direktorin Géraldine Knie weint bittere Tränen. Doch sie kämpft weiter – und die Familie hält zusammen.
Nebelschwaden ziehen vom See über den Sechseläutenplatz. In der Luft hängt die Feuchtigkeit einer langen Regennacht. Ein Taubenschwarm flattert hektisch davon. Arbeiter in orangefarbenen Signalwesten räumen Metallelemente und Kabelrollen weg. Gabelstapler und Bagger helfen bei den Abbauarbeiten. Die Magie des Zirkus wird mit schwerem Gerät entsorgt und in Kisten verpackt – Ladung um Ladung auf Lastwagen befördert und in Richtung Rapperswil-Jona SG gefahren.
Der Abschied fällt schwer
Mittendrin Géraldine Knie, 46. Die dunkle Sonnenbrille will sie nicht ablegen: «Ich habe zu viel geweint in den letzten Stunden und Tagen.» Die Artistische Direktorin des Familienbetriebs ist durch die Ereignisse sichtlich erschüttert: «Wir haben alles gemacht, was in unserem Einflussbereich lag. Das Sicherheitskonzept funktionierte, das Publikum fühlte sich im Chapiteau wohl. Aber dann kamen die neuen Massnahmen des Bundesrats.» Der Abschied aus Zürich falle schwer: «Es ist immer schwierig, diese wunderbare Stadt zu verlassen.» Aber diesmal sei es besonders hart. Denn bis im März geht der Vorhang nicht mehr auf – und was dann ist, weiss niemand.
Das Ende wird am Mittwoch der vergangenen Woche zur Gewissheit. Um 16.15 Uhr verkündet Gesundheitsminister Alain Berset in Bern das (faktische) Verbot von Grossanlässen. In diesem Moment läuft gerade die Nachmittagsvorstellung des Circus Knie. Das Publikum erhebt sich zu Standing Ovations, verabschiedet die Artisten mit tosendem Applaus aus der Manege. Gleichzeitig aber fliessen Tränen – bei Géraldine und später bei allen Artisten: «Ich musste ihnen sagen, dass wir ab morgen nicht mehr weiterspielen können.»
Am Abend steht die letzte Vorstellung auf dem Programm. «Jeder hat noch mal alles gegeben», erzählt Géraldine, «aber die Ernüchterung war greifbar.» Die ukrainische Tänzerin Anastasia fasst es in Worte: «Du stehst am Morgen auf und freust dich auf deinen Job. Und am Abend bist du arbeitslos.»
Drei Tage später auf dem Sechseläutenplatz: Der Abbau des Zelts ist ein eingespielter Prozess. Jeder Handgriff sitzt, jeder Arbeitsschritt ist eingeübt. Doch irgendwann herrscht ein Moment der Ruhe: Die grosse Blache senkt sich an Seilwinden Zentimeter um Zentimeter gegen den Boden. Jetzt ist allen unmissverständlich klar: Die Tournee 2020 ist passé.
Die grösste Stütze
Der Mann, der das Ganze orchestriert, ist Maycol Errani, 36, Gatte von Géraldine und eine Schlüsselfigur für den Circus Knie der Zukunft. Der Spross einer italienischen Artistenfamilie, begnadeter Reiter und Akrobat, ist an allen Fronten gefordert. Als er gerade eine schwere Metallkiste auf einen Lastwagen packt, wirft er seiner Frau einen kecken Blick zu: «Ist sie nicht wunderschön?» Géraldine lacht herzlich und sagt: «Maycol ist die grosse Liebe meines Lebens. Ohne ihn hätte ich die aktuelle Show nie zusammenstellen können. Er ist am Morgen der Erste auf dem Platz – und am Abend der Letzte, der in den Wagen geht. Und er ist ein wunderbarer Vater für unsere Kinder.»
Der grösste Frust
Wenige Meter daneben ringt Doris Knie, 39, um Fassung. Die Administrative Direktorin spricht von den «schwierigsten Momenten ihres Berufslebens». Sie hätten mit dem negativen Entscheid der Behörden rechnen müssen: «Aber wenn er dann eintrifft, bleibt gleichwohl nur ein grosser Frust.»
Trotz allem: Es ist auch etwas Positives entstanden. Hinter den Kulissen hat die Corona-Krise die berühmteste Familie der Schweiz zusammenrücken lassen. Dabei spielte Géraldine die Hauptrolle. Ihre einfühlsame und integrierende Art öffnete die Tür für eine spezielle «Rückkehr»: Seit diesem Jahr bringt Rolf Knie, 71, Kunstmaler und so etwas wie der verlorene Sohn des Betriebs, seine Stimme wieder vermehrt ein. Géraldine sagt dazu: «Wir haben ein derart wunderbares Unternehmen, dass wir alle am selben Strick ziehen sollten – gerade in so schwierigen Zeiten.» Erst in einer ernsthaften Krise erkenne man die wahren Freunde. Oder mit anderen Worten: «Familie bleibt Familie. Mein Vater Fredy sowie meine Onkel Rolf und Franco sind meine grossen Vorbilder. Positiv an der Krise war, dass Rolf mehr Zeit hatte und wir uns oft sehen konnten. Das habe ich sehr genossen.»
Von Genuss aber kann jetzt keine Rede sein. Der letzte Applaus verhallt – und schon ist alles zu Ende. «Fertig luschtig», wie es das Komikerduo Ursus & Nadeschkin in der Show noch kokettierend ins Publikum rief. Nun mag Nadja Sieger, 52, nicht mehr lachen: «Alles geschah so plötzlich. Wir hatten noch nicht einmal die Möglichkeit, uns von allen zu verabschieden.»
Gelassener nehmen es die Mitglieder der südamerikanischen Motorradtruppe Pinillo. Obwohl sie weder wissen, wann und wie sie nach Hause kommen, noch, ob sie in diesem Jahr nochmals ein Engagement erhalten, strahlen sie in die Kamera: «Wir haben schon zu viel erlebt, um uns durch das jähe Tournee-Ende aus der Bahn werfen zu lassen», sagt Chef José Antonio Pinillo. Auf die Frage, ob er in seiner halsbrecherischen Show noch nie verunfallt sei, antwortet er mit einem breiten Lachen: «Das Spital ist mein zweites Zuhause.
Derweil sitzt Angelina Cavallini im Ticketwagen und erstattet das Geld für die nun wertlosen Eintrittskarten zurück. Seit 50 Jahren arbeitet sie für den Circus Knie, doch eine solche Situation habe sie noch nie erlebt. Die Solidarität der Menschen sei berührend: «Viele geben Münz in die Kafikasse, und als am Mittwoch bekannt wurde, dass wir die Tournee abbrechen müssen, lösten Zuschauer, die bereits die Nachmittagsvorstellung gesehen hatten, gleich noch Tickets für den Abend.»
Doch letztlich bleibt nur die wirtschaftliche Schadensbilanz. Mike Wipf, seit Jahrzehnten verantwortlich fürs Catering, schüttelt den Kopf und spricht von einem «Rattenschwanz», den der Tournee-Abbruch nach sich ziehe: «Jetzt fehlen auch unseren Zulieferern die Aufträge. Eben hat mich der Metzger angerufen und gefragt, ob wir nun kein Fleisch mehr brauchen.» Wipf braucht kein Fleisch mehr – sicher nicht bis im Frühling. Sehnsucht nach Normalität. Im März will sich der Circus Knie in Rapperswil-Jona für die Tournee 2021 bereit machen und schon bald wieder in Zürich gastieren. Géraldine Knie sehnt sich mit ihrer grossen Zirkusfamilie zurück nach der Normalität. Doch diese lässt sich zurzeit noch nicht mal in der Manege herbeizaubern.
Mutig, riesig, durchgestylt! Markus Segmüller eröffnet am 2. November im Circle ein französisches Restaurant.25. Oktober 2020
Text: Thomas Renggli
Fotos: HO, Thomas Buchwalder
«SABLIER» – FÜR ZÜRCHER UND FÜR DIE PASSAGIERE. Markus und Daniela Segmüller haben sich in den vergangenen Jahren als Schlüsselspieler in der Zürcher Gastronomie etabliert. Im legendären «Carlton» verbinden sie den Glanz der alten Bahnhofstrasse mit der gehobenen Küche und einer der gehaltvollsten Weinkarten der Stadt. Das irische «James Joyce Restaurant & Bar», der Landgasthof «Adlisberg» und das «Loft Five» an der Europaallee verleihen dem Segmüller-Portfolio Vielfalt. Und nun wagen die beiden einen spektakulären Spagat. Am Flughafen Zürich wollen sie mit dem eleganten Restaurant «Sablier» im neuen Gebäudekomplex Circle sowohl die globale Reisekundschaft, die lokalen Gewerbetreibenden und die Benutzer des Privatflugzeug-Terminals glücklich machen: «Wir sprechen alle Schichten an und wollen nicht für die Galerie kochen», sagt der Gastgeber.
DIE KARTE? KLASSISCH UND FRANZÖSISCH! So soll das «Sablier» den Gästen die Vorzüge der französischen Küche schmackhaft machen. «Wir bauen unsere Betriebe um die Kunden», sagt Segmüller. Kulinarisch liegt der Fokus auf der modernen «Cuisine Française». Küchenchef Andreas Medewitz setzt auf französische Klassiker wie das «Filet de Boeuf en croûte Café de Paris» oder die «Magret de Canard à l’Orange». Im Bar-Lounge-Bereich werden unkomplizierte Gerichte wie «Croque Monsieur Sablier» oder «Salade Niçoise» serviert. Der 31-jährige Deutsche Medewitz, vorher ein talentierter Koch in der zweiten Reihe, hat von den Besten gelernt: Christian Geisler, Antonio Colaianni oder David Martinez.
«DIE SCHÖNSTE KÜCHE ZÜRICHS.» Allein die Lage macht das «Sablier» zu einer Bereicherung für die Zürcher Gastronomie. Zwischen Rollfeld, idyllischem Park und modernen Glasfassaden spannt es den Bogen zwischen Moderne und Natur. Das Interieur besticht durch grosszügige Raumverhältnisse und einem verspielten Lichtkonzept. Original Lalique Möbel auf grossflächigem Blumenteppich, grosszügige Wandgemälde und hängende Pflanzen sollen den Gast auf eine Reise der Sinne mitnehmen. In der «Varieté Lounge» wird an kleinen Tischen der Apéritif serviert. Die offene Showküche offeriert französische Charcuterie oder kalte Gerichte, die vor den Augen der Gäste zubereitet werden. Eine getönte Scheibe eröffnet Einblick in das Herzstück des «Sablier»- die schwarz gekachelte Küche, in der die Meister ihres Fachs an der Arbeit sind. Küchenchef Medewitz sagt über seinen Arbeitsplatz: «Das ist die schönste Küche Zürichs».
GRANDIOSE TERRASSE FÜR 120 GÄSTE. «Sanduhr» lautete die deutsche Übersetzung für «Sablier». Der Name soll für die Entschleunigung stehen, die das Lokal mit 300 Innenplätzen und der grandiosen Terrasse für 120 Gäste bietet. «Ferien vom Alltag» nennt es Segmüller. Verkehrstechnisch bietet das Lokal einen Service, der einmalig ist: 20‘000 Parkplätze, eine eigene Tramstation und einen Bahnhof nur fünf Minuten entfernt. Vor allem ist das «Sablier» das einzige Restaurant weit und breit, das über einen eigenen Flughafen verfügt.
Mit ihrer Stiftung DEAR Foundation — Solidarité Suisse hilft die Baslerin Sonja Dinner (58) jenen Menschen, die durch die Corona-Krise in Not geraten sind. Dabei kämpft sie auch gegen die Tabuisierung dieses Themas.
Frau Dinner, wie sieht Armut in der Schweiz aus? Das sind Menschen mit tiefem Einkommen; Menschen, die nicht nur von einem Job leben können. Wir sprechen von Leuten, die am Rande des Existenzminimums leben: 1200 Franken pro Monat. Das ist selbst in normalen Zeiten zu wenig. Wir sehen das Gesicht der Armut ganz deutlich bei den Empfängern unserer Unterstützungsbeiträge – etwa in Gassenküchen oder Frauenhäusern.
Doch das Thema wird tabuisiert… …absolut. Aber ich stufe dies als masslose Arroganz von uns ein. Es ist sehr überheblich, wenn man behauptet, dass es in der Schweiz keine Armut gibt – weil es nicht stimmt. Denn sie ist einfach nicht so sichtbar. Und weil die Armut ein Tabuthema ist, schämen sich die Betroffenen zum Teil, Hilfe anzufordern und anzunehmen. Sie verstecken sich.
Wie macht sich dies bemerkbar? Die Menschen stehen heimlich an, wenn es um die Ausgabe von Lebensmitteln geht oder um eine Mahlzeit in der Gassenküche. Viele versuchen krampfhaft, das Bild der heilen Welt und einer bürgerlichen Existenz gegen aussen aufrechtzuerhalten, selbst wenn es bei Weitem nicht mehr gegeben ist.Das ist Sonja Dinner
Die 58-jährige Baslerin war bis 2001 eine erfolgreiche IT-Unternehmerin mit 30 Mitarbeitenden. Dann entschloss sie sich zum Frontenwechsel und gründete eine Stiftung (DEAR Foundation), die sich vor allem für Kinder und Frauen in der armen Welt einsetzt. Sie ist verheiratet und lebt in Rudolfstetten AG und in Norddeutschland.
Es gibt also nicht nur die Obdachlosen auf der Strasse? Nein. Es gibt viele arme Menschen, die noch in einer Wohnung leben, solange sie die Kündigung nicht erhalten haben. Aber wenn man sich in diesen Wohnungen umschaut, ist alles auf Pump gekauft. Diese Menschen können die Schulden nicht mehr bedienen. So gesehen ist unsere Wohlstandsgesellschaft für gewisse Leute eine Falle: einerseits weil sie denken, sie müssen auch haben, was man bei anderen sieht; andererseits weil man es unbedingt haben will und es leicht finanzierbar ist.
Mit Ihrer Stiftung leisten Sie unkomplizierte Soforthilfe. Wie gehen Sie konkret vor? Wir wenden uns an Organisationen und Verbände, die für Unterstützungszahlungen infrage kommen. Es gibt etwa eine Organisation von allerziehenden Vätern und Müttern. Oder verschiedene Behindertenverbände. Wir müssen über derartige Organisationen gehen. Denn die Einzelfälle können wir nicht abhandeln – alleine von der Menge her nicht. So haben wir verschiedene Modelle für gewisse Berufsgruppen aufgebaut, die ganz besonders betroffen sind.SI Jobbörse
Von welchen Berufsgruppen sprechen Sie? Zum Beispiel von Marktfahrern und Schaustellern. Das ist eine Berufsgruppe, die von uns bereits Hilfe erhalten hat. Daneben sind wir mit dem Roten Kreuz daran, eine Pflegeausbildung zu organisieren oder sie so zu modifizieren, dass es für Menschen über 50 Jahren passt: damit sie das medizinische Personal in den Spitälern und Kliniken entlasten können, und zwar mit nicht medizinischen Leistungen. Wir vermitteln auf diese Weise Tausenden von gekündigten Menschen das Gefühl, dass sie gebraucht werden.
Wie gross ist die Bereitschaft in der Schweiz, für Schweizer zu spenden? Menschen spenden, wenn sie bereit sind, sich mit der anderen Seite des Lebens zu befassen. Das gilt sowohl für die Superwohlhabenden wie auch für die normalen Bürger, die uns mit 500 oder 1000 oder 2000 Franken unterstützen. Aber wir brauchen grosse Beträge. Denn wir wollen Grosses bewirken. Zum Beispiel möchten wir gemeinsam mit dem Schweizerischen Nutzfahrzeugverband ASTAG dringend benötigte Chauffeure ausbilden. Und da fallen pro Person Kosten in der Höhe von 20’000 bis 30’000 Franken an. Hier streben wir auch eine Zusammenarbeit mit den RAVs an. Wir wollen eigentlich nur ergänzende Beiträge liefern – dort, wo der Staat nicht mehr kann, aber die Menschen gleichwohl noch in Not sind und arbeiten wollen. Wir sind komplementär zum Staat. Dort, wo die staatliche Hilfe nicht mehr reicht, greifen wir ein.RÉMY STEINER
Der Schein trügt: Dinner hat keine Zeit, die Beine hochzulagern: Sie arbeitet für die Stiftung 60 Stunden pro Woche.
Man hört auch von Betrügern und Corona-Profiteuren. Wie kontrollieren Sie? Wir haben ganz klare Auflagen, wann und bei wem wir Unterstützung leisten. Es kann nicht sein, dass jemand mit zwei Millionen Franken Vermögen den Job verliert und dann von uns Geld verlangt. Wir fragen nach den Vermögensverhältnissen – und danach, ob eine Firma die staatlichen Unterstützungsgelder bezogen hat. Wenn wir einem Unternehmen helfen, ist dies an die Bedingung geknüpft, dass keine Boni und Tantiemen ausbezahlt werden. Und wenn wir Unternehmen helfen, müssen dort auch die Löhne der Geschäftsleitung reduziert werden. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Eine Firma mit 200 Mitarbeitern und einer Geschäftsleitung von fünf Personen, die Gesamtlohnkosten von 1,2 Millionen Franken ausweist, muss die Löhne der Führungsequipe um 25 Prozent reduzieren – sonst gibts von uns keine Unterstützung.
Diese Forderung stellen Sie? Selbstverständlich. Das ist die Bedingung, dass wir helfen. Die Auflagen sind branchenabhängig. In gewissen Branchen bestehen hohe Margen – und dort konnte sich die Geschäftsleitung überproportional hohe Löhne geben. Hingegen gibt es Detaillisten aus dem Computer- und Elektronikbereich, wo die Margen hauchdünn sind. Unsere Philosophie ist, dass die Solidarität überall spielt – zwischen den Branchen, aber auch innerhalb der Unternehmen. Ein Unternehmen, das von uns Geld erhält, muss Lehrstellen schaffen, die es sonst nicht schaffen würde. Die Lehrlinge, die dadurch eine Stelle erhalten, müssen einen halben Tag pro Monat Sozialdienst leisten.Lehrstelle gesucht?
Hunderte Jobsuchende haben sich in der SI-Jobbörse bereits präsentiert. Zum Abschluss der Serie haben die Jüngsten auf dem Arbeitsmarkt ihren grossen Auftritt: Bist du auf Lehrstellensuche, oder hast du gerade deine Lehre abgeschlossen und möchtest nun Berufserfahrung sammeln? Erscheine mit deinem Profil in der Schweizer Illustrierten! Schicke dazu Namen, Wohnort, Ausbildung sowie Jobwunsch zusammen mit einem Foto und einem kurzen Satz zu dir an: jobboerse@schweizer-illustrierte.chJetzt anmelden
Wie unterscheidet sich die Entwicklungshilfe in der Schweiz von derjenigen im Ausland? Dadurch, dass wir in der Schweiz Sozialwerke haben, die es im Ausland nicht gibt. Und dass wir viel besser kontrollieren können, was mit den Geldern geschieht. Wenn wir in der Lage sind, Mikrokredite auf den Philippinen oder in einem afrikanischen Land auszubezahlen, sind wir fast selbstverständlich in der Lage, in der Schweiz Menschen zur Arbeit zurückzubringen – wenn sie arbeiten wollen. Wenn jemand partout nicht arbeiten und die Sozialwerke ausnutzen will, sind auch wir am Ende. Aber solche Menschen unterstützen wir nicht.
«Solidarität» ist wohl das Wort des Jahres. Spüren Sie diese Solidarität wirklich? Ja. Die Leute, die sich auf ein Gespräch einlassen, und solche, die sich über Zeitungen und die Medien informieren, zeigen diese Solidarität. Aber es gibt auch eine Klasse von Menschen, die davon nichts wissen will. RÉMY STEINER
«Dort, wo die staatliche Hilfe nicht mehr reicht, greifen wir ein»: Sonja Dinner
Wen meinen Sie? Es geht dabei nicht um eine Einkommensklasse. Viel mehr sind es jene Menschen, die irgendwie abgehoben sind, in ihrer Plüschwelt leben und auf keinen Fall mit der Realität konfrontiert werden wollen. Aber es gibt ganz viele Superwohlhabende, die extrem solidarisch sind. Eine grosse Enttäuschung für uns war, dass das Parlament unseren Vorschlag abgeschmettert hat, dass die Deckelung für Spenden in der Schweiz während zwei Jahren aufgehoben wird, wonach man zwischen 10 und 20 Prozent des Vermögens steuerfrei spenden kann. Mit Bundesrat Ueli Maurer waren wir uns schon einig. Und wir hatten grosse Zusagen von Spenden für den Fall, dass diese Beschränkung fällt. Ein Spender hat uns 50 Millionen zugesagt, wenn er steuerfrei hätte spenden können. Nun ging uns dieses Geld verloren.
Was raten Sie Stellensuchenden? Ich rate jedem jungen Menschen, in seine Ausbildung zu investieren. Bildung ist das Einzige, was man niemandem wegnehmen kann. Das gilt in der armen Welt, aber auch in der Schweiz. Bildung ist das wertbeständigste Kapital, das man haben kann. Und dann gibt es Branchen, die zukunftsträchtig sind – beispielsweise die IT.
Ein unsichtbares Virus stellt das Leben auf den Kopf. Es verursacht mediale Hysterie und teils surreale Ängste. Doch es bietet auch eine grosse Chance. Der Moment des Innhaltens und der Selbstfindung eröffnet neue Perspektiven.
Corona überall: hinter jeder Ecke, in jedem Schaufenster, auf jedem Fernsehbildschirm sowieso, rund um die Uhr. Die Aufregung ist gross – und sie führt zum kollektiven Stillstand. Es ist, als wäre dem Leben der Stecker rausgezogen worden: verlassene Strassen, leere Trams, verriegelte Restauranttüren, geschlossene Schulen, der Sport ist abgesagt oder verschoben – Menschen, die sich gegenseitig argwöhnisch beobachten und um eine Packung Toilettenpapier oder einen Sack Mehl streiten. Ein Staat der Notkredite im Wochenrhythmus verspricht – aber viele Bürger trotzdem im Ungewissen lässt.
Und auch die Kulturwelt steht still: leere Säle, leere Bühnen, gespenstische Stille statt warmer Applaus. Die Gesellschaft befindet sich im luftleeren Raum und dürstet nach Desinfektionsmittel. Andreas Homokin, der Intendant des Zürcher Opernhauses, sagt: „Kultur ist ein menschliches Grundbedürfnis: Sie bedeutet für mich all das, was unser Menschsein und unser Zusammenleben letztlich ausmacht.“ Wie wichtig etwas ist, wird erst bewusst, wenn man es nicht mehr hat. Gesa Schneider, die Leiterin des Literaturhauses in Zürich, bezeichnet die Kultur als Sinn des Lebens: „Kultur bedeutet für mich, nicht zu sein, sondern das Sein zu verhandeln. Ich freue mich, wenn hier wieder Leben und Spiel und Nachdenken passiert. Und das Reden über das Leben.“
Wenn das Leben still steht, gibt es auch weniger darüber zu reden – und zu berichten. Die grossen Medienhäuser haben Kurzarbeit verordnet. Ihre Publikationen schrumpfen praktisch im Wochenrhythmus an Umfang. Vielen Journalisten geht es wie den Coiffeurs und Restaurantbetreibern: Sie fürchten um ihre berufliche Existenz.
Derweil diktiert in den Zeitungen und Zeitschriften, in Funk und Fernsehen die Tonlage der Weihnachtsfesttage. Weil nichts passiert, werden alte Ereignisse neu aufgewärmt. Rückblicke werden geschrieben und Konserven geöffnet – und Tipps für Isolationsgefahren vermittelt: Wie verhindere ich übertriebenen Alkoholkonsum? Was mache ich gegen den Quarantänekoller? Wo hole ich Hilfe bei häuslicher Gewalt?
Das Coronavirus hat das Leben in der Schweiz verändert wie kaum ein Ereignis seit dem zweiten Weltkrieg. Jeder und jede ist betroffen: sozial, gesellschaftlich, finanziell – sportlich: Fitnesszentrums bleiben geschlossen, Velotouren sind nur noch mit den engsten Verwandten möglich, die Laufgruppe sieht sich zum potenziellen Virenherd degradiert.
So absurd es aber tönen mag: Die Volksgesundheit könnte von der aktuellen Notlage sogar profitieren. Denn kaum einmal zuvor begegnete man im Wald und in den Parkanlagen mehr bewegungsfreudigen Menschen – selbstverständlich alle im gebührenden Zweimeters-Abstand zueinander. Es scheint, die ganze Schweiz habe ihre Liebe für Outdoor-Aktivitäten entdeckt. Und Gesundheitsminister Alain Berset, früher ein ambitionierter 800-m-Läufer, bezeichnet die nationale Ausnahmesituation als „Marathon mit ungewissem Ausgang“. Dazu passt, dass Mr. Corona, der BAG-Pandemie-Experte Daniel Koch, ein leidenschaftlicher Ausdauersportler ist – und eigentlich jeden Tag so aussieht, als habe er soeben einen Ultra-Ironman und den 100-km-Lauf von Biel nacheinander bewältigt – ohne Verpflegungspause.
So oder so: Auf dem Spaziergang oder auf der Joggingrunde macht man interessante Beobachtungen. Denn das Verhalten der Mitmenschen ist nicht mehr das gleiche. Am positiven Ende die Erfahrungswerte sind die gewachsene Freundlichkeit und die netten Begrüssungen unter wildfremden Menschen. Doch es gibt auch das Gegenteil: Spaziergänger, die vor nahenden Mitmenschen in fast schon panischer Angst ins nächste Gebüsch springen, ihr Hündchen schützen in den Arm nehmen oder fluchtartig die Richtung wechseln. Auch Menschen mit Ganzgesichtsmundschutz, Plastikhandschuhen und Taucherbrille schreiten daher. Es ist, als befände man sich in einem (eher schlecht produzierten) Science-Fiction-Film. Aber spätestens wenn man in der Migros-Filiale per Lautsprecher daran erinnert wird, auf Distanz zu gehen, die Anweisungen des Personals zu befolgen und vor dem Gemüsestand die Hände zu desinfizieren, weiss man: das ganze Schlamassel ist real.
Doch vielleicht ist ja schon mittelfristig alles nur halb so wild. Denn selbst der grösste Sturm bietet eine Chance. Nach Jahren des Aufschwungs und des kollektiven Übermuts kann die Krise als Weckruf verstanden werden und die Menschen zur Rückkehr zu Demut und Respekt bewegen. Die plötzliche Ruhe lässt uns innehalten und den Blick für das wesentliche wieder finden. Wir haben wieder Zeit, um uns mit unseren Mitmenschen zu befassen – und Dinge zu erledigen, die wir vorhin in der überbordenden Hektik des Alltags gleichgültig vor uns hin schoben. Und sei es nur, das Ausfüllen der Steuererklärung.
Art Furrer, der weise Ski-Pionier und Hotelier aus dem Wallis, wählt einen philosophischen Ansatz der Lagebeurteilung: „Nun erhalten wir Zeit, um nachzudenken und um über die Bücher zu gehen.“ Es sei aber von existenzieller Bedeutung, dass man in dieser Zeit den Glauben an das Gute und die Hoffnung nicht verliere – dass man den Mut bewahre, den Mitmenschen zu helfen. Furrer zitiert den Titel des berühmten Liedes des Schweizer Jodler-Duos Marthely Mumenthaler/Vrenely Pfyl: „Nach em Räge schint Sunne, nach em Briegge wird glacht“.
Christoph Sigrist, der Pfarrer des Grossmünsters, sieht in der Krise ebenfalls Positives: „Wir erleben momentan viel Gutes miteinander – lernen den Verzicht und die Inspiration neu kennen. Die Menschen finden wieder zueinander.“ An dieser Stelle zitiert er Zwingli: „Tut um Gottes Willen etwas tapferes.“
Um diesen Gedanken nachhaltig umzusetzen, müsse aber jede und jeder etwas beitrage – vor allem in der Aufarbeitung der Ereignisse: „Ich hoffe, dass die Menschen nicht zu schnell vergessen, dass sie sich auch langfristig daran erinnern, dass Themen wie Klima, Flüchtlinge und Hunger immer präsent sind.“ Sigrist hofft, dass das stete Streben nach Überfluss abnimmt: „Es ist nicht das Geld, das giftig ist, sondern die Gier.“
Im Zoologischen Garten von Zürich sorgt das Virus ebenfalls für eine Ausnahmesituation. Durch die Schliessung gehen dem Tiergarten rund eine Million Franken pro Woche an Einnahmen verloren. Für den Tier- und Naturschutz könnte sich gleichwohl eine wichtige neue Perspektive eröffnen. Kurator Martin Bauert sagt: „Es scheint klar, dass das Coronavirus auf einem Markt in Wuhan von einer Fledermaus auf einen Menschen übergesprungen ist. Macht die chinesische Regierung nun ernst und verbiete solche Märkte, wäre das ein grosser Schritt für den Tierschutz.“ Bauert spricht von einem „Big safe.“
Ganz grundsätzlich öffnet die Krise einen neuen Blick auf die Geschehnisse und die Gesellschaft. Und sie bietet auch eine Chance, – wenn wir die Ereignisse sachlich einschätzen und neuen Mut fassen. Denn zwei Dingen stehen fest: Die Welt geht nicht unter – und es gibt ein Leben nach Corona.