Auf ein Sandwich mit Ilona Schmiel

Die Intendantin der Tonhalle Zürich hat Vorurteile überwunden und wünscht sich, dass der Mut die Frustration verdrängt.

Essensverabredungen im Restaurant sind derzeit schwierig umsetzbar. Ilona Schmiel (52), die Intendantin der Zürcher Tonhalle, schlägt eine unkomplizierte Alternative vor: „Kommen Sie doch zu uns die in die Tonhalle-Maag – und wir kaufen etwas in einem Take-away.“ So setzen wir uns im „Klangsaal“ in gebührendem Abstand auf Holzstühle, funktionieren die Notenpulte zu Picknicktischen um und beissen in ein Käsesandwich: „In Zeiten wie diesen muss man lernen zu improvisieren“, sagt Ilona Schmiel und entschuldigt sich, dass „wir hier so dezimiert essen müssen“.

Dann beginnt sie zu reflektieren: „Wenn wir etwas Positives aus dieser Situation mitnehmen können, ist es die erhöhte Flexibilität. So kommt man aus alten Rollenmustern heraus. Man denkt über die Zukunft in geraffter Zeit nach. Alle Herausforderungen, die wir schon vor der Pandemie hatten, haben sich wie unter einem Brennglas verschärft. Und dies ist eine interessante Situation und ein Zustand, den man als Chance wahrnehmen muss.“ In einer Lage, die man nie für möglich gehalten hätte, sei man nun gezwungen, viel schneller über die Zukunft nachzudenken: „Als wir vor einem Jahr in diesem Raum sassen, waren wir kurz davor, zu einer kleinen Tournee in Europa aufzubrechen – nach Innsbruck, Wien, Budapest und Dortmund. Damals hielten wir diese Reise für ein Projekt mit normalem Aufwand. Heute wäre sie mit einem Orchester, mit Solisten, mit dem ganzen Staff logistisch, reisetechnisch, visatechnisch und quarantänetechnisch nahezu unmöglich.“ Die Tonhalle macht aus der Not eine Tugend. Schmiel treibt mit Chefdirigent Paavo Järvi und dem Orchester die im Herbst begonnen Aufnahmen der Tschaikowsky-Sinfonien weiter voran. So oder so befindet sie sich derzeit fast permanent im „Standby-Modus“. Dies galt auch, als im Sommer der Betrieb vorübergehend wieder hochgefahren wurde: „Paavo Järvi flog sofort aus London ein. Ich holte ihn am Flughafen ab – und fand eine Empfangshalle vor, wie ich sie noch nie erlebt hatte: nur zwei Personen waren dort.“

Ilona Schmiel lacht während des improvisierten Lunches viel und herzlich. Sie verströmt Energie und Optimismus. Dabei durchläuft sie momentan die wohl schwierigste Zeit ihrer beruflichen Karriere. Denn eigentlich stellt allein die Maag-Halle als Exil während der Renovation der Tonhalle am See ein Ausnahmefall dar: „Wir befinden uns seit September 2017 hier – und betreiben einen Spielort, den wir grössten Teils selber finanzieren. Wir erhielten von der Stadt Zürich 1,65 Millionen Schweizer Franken. Der grosse Rest dieses Zwölfmillionen-Franken-Gebäudes ist privat akquiriert und von der Tonhalle-Gesellschaft finanziert worden.“ Es stecke sehr viel Herzblut und Eigenleistung in dieser Lokalität: „Wir liessen in eine Industriehalle eine Box aus 90 Tonnen Fichtenholz einbauen. Wir investierten nur das Nötigste in den neuen Saal. Alles, was Luxus sein könnte, fiel weg. Natürlich ist es ein Provisorium – aber ein erstklassiges.“ Alle – Publikum, Mitarbeiter, Orchester, Gastkünstler – seien begeistert von der Akustik und vom Ambiente. Auch das Umfeld im früheren Arbeiterquartier passt: „Wir profitieren davon, dass sich der ganze Kreis 5 veränderte und die früheren Industriegebäude sukzessive einem neuen Nutzen zugeführt werden. Wir haben hier ein hochkreatives Umfeld gefunden – ein lebenswertes und lebendiges Viertel. Wir sind hier wohl näher bei den Menschen als im Kreis 1 – und auch sehr nahe bei der Hochschule der Künste. Dies ist eine besonders schöne Konstellation.“ Ob die Tonhalle Maag bleibt, sei offen: „Es ist ein sehr schöner Saal, aber wir können ihn nicht selber betreiben. Das Rennen läuft – aber wir sind daran nicht beteiligt.“

Es war am 3. November 2012, als Ilona Schmiel in Zürich ihren ersten Auftritt hatte – an der Medienkonferenz, an der sie als künftige Intendantin der Tonhalle-Gesellschaft Zürich vorgestellt wurde. Es war ein ungewöhnlich gut besuchter Anlass. Schmiel erinnert sich:  „Viele Persönlichkeiten aus dem Umfeld der Tonhalle und aus der Zürcher Kultur traten mir von Anfang an ohne Vorurteil und mit offenem Geist entgegen.“ Doch es habe auch andere Reaktionen gegeben – und die Fragen: Wo kommt sie her? Weshalb ist sie hier? Weshalb eine Frau? Und weshalb nicht eine 60-jährige Person? Schmiel schüttelt den Kopf:  „Es standen durchaus Vorurteile im Raum. Aber diese haben mich mein Leben lang begleitet. Ich war mit 30 Jahren Intendantin des Konzerthauses Glocke in Bremen – ebenfalls als erste Frau.“ Die Frage, ob Mann oder Frau, spiele für sie aber nie eine Rolle: „Der Beste oder die Beste muss zum Zug kommen.“ Schmiel denkt, dass sich in der Schweiz seit 2012 vieles geändert habe – Im Positiven. So sieht sie sich heute auch als Mentorin in Fragen der Chancengleichheit – für jüngere Frauen, die ebenfalls in Führungsrollen wollen.

In der Stadt Zürich erkennt Ilona Schmiel in Sachen Kultur „ein hochqualitatives und variantenreiches Angebot.“ Mit Opernhaus, Schauspielhaus, Kunsthaus und Tonhalle in nächster Nähe sei hier eine Ansammlung von hochwertigen Kulturinstitutionen zu finden, wie sie kaum an einem anderen Ort vorkomme. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass der Mut und nicht die Frustration wieder in den Vordergrund rückt: „Wenn man der Pandemie in unserem Sinne etwas Gutes abgewinnen kann, ist es die Erkenntnis, wie sehr wir die Livemusik vermissen. Kultur ist für alle da – und es braucht sie für die Seele und für die Identifikation.“ Sie sei der festen Überzeugung, dass die Menschen gestärkt aus der Krise zurückkommen – und dass die Kultur aufblüht. Zum Abschied sagt Ilona Schmiel beim Künstlereingang der Tonhalle: „Eine Gesellschaft, die nicht mehr singt, kann ich mir nicht vorstellen.“

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