Der neue Schwingerkönig Joel Wicki, 25, ist ein Mann mit Bodenhaftung und Demut. Zuhause in Sörenberg feiert er mit Familie, Freundin – und seinem Lieblingsbundesrat.
Text: Thomas Renggli
Flühli-Sörenberg. Die flächengrösste Gemeinde des Kantons Luzern ist im Sommer ein beschaulicher Fleck Erde. Normalerweise. Der Triumph von Joel Wicki am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest hat den 2000-Seelen-Ort aus dem Sommerschlaf gerissen. Gemeindepräsidentin Hella Schnider ist diese Woche an allen Fronten gefordert: „Seit Sonntag herrscht der Ausnahmezustand.“ Die Bäuerin muss für den Empfang am Mittwoch den Gemeinderat eiligst zum OK umfunktionieren. Rund 5000 Besucher strömen in den Ort – darunter Ueli Maurer der höchste Schwinger-Fan des Landes und „Lieblings-Bundesrat“ des neuen Königs – und weitere Luzerner Vertreter(innen) der Bundespolitik (Ständerat Dominik Müller, Nationalrätin Ida Glanzmann).
Über allen aber thront der neue Regent der Eidgenossenschaft – Joel I. „Es macht mich stolz, in meiner Heimat von all diesen Menschen derart euphorisch empfangen zu werden. An seiner Seite: Mutter Esther, Vater Herbert, Bruder Kevin und Freundin Alicia. Der Königsempfang besitzt sporthistorische Dimensionen. Joel Wicki ist der erste Innerschweizer auf dem Thron seit 36 Jahren (und erst der zweite insgesamt). Heinrich „Harry“ Knüsel, der Sieger von 1986, hat endlich einen Nachfolger gefunden.
Doch der Weg zum Ziel war lang und beschwerlich. Als Kind deutete wenig darauf hin, dass Joel je ein ganz Böser wird. Mit sieben Jahren litt er an einer heimtückischen Virusinfektion, die Lähmungserscheinungen provozierte und einiges in Frage stellte. Klein Joel lag wochenlang im Spital und musste starke Schmerzmittel schlucken. Schliesslich kam er aber wieder auf die Beine – ohne allerdings zu einem Hünen heranzuwachsen. Im Gegenteil: Der Schwingsport, den er durch seinen Vater und Bruder kennen und lieben lernte, schien ihm eine Nummer zu gross: „Da muss zuerst noch etwas Dünger in die Schuhe“, pflegte der Schulleiter in Sörenberg, Guido Bucher, zu sagen. Heute ist Bucher Mediensprecher des Innerschweizer Schwinger-Verbands und mächtig stolz auf seinen ehemals leichtgewichtigen Schüler: „Seine Leistung in Pratteln war grandios.“ Fast noch mehr freut sich der Pädagoge darüber, dass Wicki „noch genauso tickt wie früher“: „Er liebt Tiere und die Natur. Und er ist grundehrlich – und braucht die Öffentlichkeit eigentlich nicht.“ Schon in seiner Kindheit sei dies so gewesen: „Joel liebte das Schwingen immer. Im Scheinwerferlicht aber wollte er nie stehen.“
Das betrifft auch die Momente seiner persönlichen Schicksalsschläge. 2013 wurde sein Vorbild und Schwinger-Kamerad Benno Studer bei einem Amoklauf in einer Schreinerei in Menznau erschossen. Darauf angesprochen, wird Wicki nachdenklich: „Jedes Mal wenn ich durch Menznau fahre, beginnt mich Bennos Schicksal von neuem zu beschäftigen.“ 2016 erkrankte sein Vater an Darmkrebs – und kämpfte sich dank Frühbefund und Chemotherapie ins Leben zurück.
Es sind jene Ereignisse, die Joel Wicki demütig werden lassen – und ihm vor Augen führen, dass der Sport nicht alles ist – dass die Niederlage im Schlussgang des Eidgenössischen 2019 ebenso nur ein kurzer Dämpfer war wie der knapp verpasste Sieg am Unspunnen-Fest 2017. „Es ist schön, der König der Herzen zu sein“, sagte er damals. So war es ernstgemeint, als er am Sonntag nach dem Gewinn des Königstitels angekündigte: „Am Montag gehe ich ganz normal auf den Bauernhof und arbeite mit den Kühen. Am Mittwoch müssen schliesslich die fremden Gusti zu ihren Besitzern zurück. Und es bedeutet mir sehr viel, sie würdig zu verabschieden. “ Da hatte er allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht – beziehungsweise ohne die Medien. Anstatt zu heuen und zu misten, musste Joel Wicki Fernseh-, Radio- und Zeitungsinterview im Halbstundentakt geben. „Das gehört halt dazu“, sagt er mit royaler Gelassenheit im Hotel Rischli in Sörenberg.
Die Ruhe, die der neue König verströmt, wirkt in diesen oft überhitzten Zeiten wie ein Wink mit dem Zaunpfahl – und kann dem Schwingen neue Sympathien einbringen. Zwar vertraut auch Wicki den Diensten eines Managers, gleichzeitig sagt er aber: „Das wichtigste ist mir mein persönliches Umfeld – meine Eltern, mein Bruder und meine Freundin. Und mein Kindheitstraum ist es, einen eigenen Bauernhof zu führen.“ Dafür möchte er gerne allfällige Mehreinamen investieren: „Es macht mich glücklich, ein schönes Zuhause zu haben. Das gibt einem ein Gefühl der Sicherheit.“ Auch sei es in einem Sport wie Schwingen vernünftig gewisse Reserven anzulegen: „Man weiss nie, was medizinisch noch auf einen zukommt.“
Es sind leise Worte, die gerade bei den Traditionalisten gut ankommen – die bei Wicki absolut glaubhaft tönen. Zwar hat der Mann in den vergangenen Jahren ein erstaunliches Medienbewusstsein und eine bemerkenswerte Abgeklärtheit entwickelt, dennoch wirkt er noch wie jener kleine Schüler, von dem Primarlehrer Bucher liebevoll sagt: „Er war kein Engeli, aber konnte immer zwischen richtig und falsch unterschieden.“
Im Sägemehl machte er am vergangenen Wochenende alles richtig – und bestätigte damit den Eindruck der gesamten Saison. Im Jahr 2022 verlor Wicki nur drei Gänge. In Pratteln war er der konstanteste und technisch beste Schwinger. Dass der entscheidende Schwung im Schlussgang von gewissen Fachleuten als nicht regulär eingestuft wurde, nervt ihn: „In unserem Sport entscheiden oft Sekundenbruchteile und Zentimeter. Zwei Meinungen sind in vielen Fällen zulässig.“
So oder so: Der gelernte Baumaschinenmechaniker, der sich derzeit in der Ausbildung zum Landwirt befindet, verkörpert mit seiner bodenständigen und naturverbundenen Art die Tradition des Schwingens wie kaum ein Zweiter. Und auch das Entlebuch hat in ihm den perfekten Botschafter gefunden. Hella Schnider, seit zwei Jahren Gemeindepräsidentin von Flühli-Sörenberg, sagt nicht ohne Stolz: „Wenn man sich einen typischen Entlebucher vorstellen will, könnte es genau Joel Wicki sein. Er ist bodenständig, respektvoll und bescheiden. Und er liebt die Landwirtschaft.“
Thedy Waser, seit neun Jahren technischer Leiter des Innerschweizer Schwinger-Verbands, betont derweil die sportliche Bedeutung von Wickis Sieg für die ganze Region: „Der Erfolg von Joel wird unserem Sport in der Innerschweiz enormen Schub geben. Nun haben die Jungen endlich wieder ein Vorbild, das ihnen zeigt, was alles möglich ist.“ Waser vergleicht Wicki mit dem Nidwaldner Marco Odermatt, dem derzeit komplettesten Schweizer Skifahrer: „Marcos Erfolge haben bei uns einen regelrechten Ski-Boom ausgelöst. Bei Joel wird dies im Schwingen ähnlich sein.“
Tatsächlich: In Sörenberg säumen Transparente auf praktisch jedem Meter die Strasse durchs Tal: „Sackstark Joel“- „Joel – Wir gratulieren Dir zu deinem tollen Erfolg“, „Herzlichen Glückwunsch Joel“. Und in der lokalen Volg-Filiale, wo normalerweise die Königsmutter Esther Wicki an der Kasse sitzt, wird die schwarzen Aktionstafeln kurzfristig zur Glückwunschbotschaft umfunktioniert: „Bravo König Joel – mer gratulierend ganz herzlich.“ Am Mittwoch schliesslich folgt die Zugabe für den Gekrönten. Es ist ein wahrlich majestätischer Anlass. Und er machte deutlich: Joel Wicki ist nicht nur der König in seinem Dorf. Er vertritt die ganze Innerschweiz – und hat das historische Zentrum des Schwingens aus einer 36-jährigen Lethargie befreit.