Nach dem Regen scheint die Sonne

Ein unsichtbares Virus stellt das Leben auf den Kopf. Es verursacht mediale Hysterie und teils surreale Ängste. Doch es bietet auch eine grosse Chance. Der Moment des Innhaltens und der Selbstfindung eröffnet neue Perspektiven.

Corona überall: hinter jeder Ecke, in jedem Schaufenster, auf jedem Fernsehbildschirm sowieso, rund um die Uhr. Die Aufregung ist gross – und sie führt zum kollektiven Stillstand. Es ist, als wäre dem Leben der Stecker rausgezogen worden: verlassene Strassen, leere Trams, verriegelte Restauranttüren, geschlossene Schulen, der Sport ist abgesagt oder verschoben – Menschen, die sich gegenseitig argwöhnisch beobachten und um eine Packung Toilettenpapier oder einen Sack Mehl streiten. Ein Staat der Notkredite im Wochenrhythmus verspricht – aber viele Bürger trotzdem im Ungewissen lässt.

Und auch die Kulturwelt steht still: leere Säle, leere Bühnen, gespenstische Stille statt warmer Applaus. Die Gesellschaft befindet sich im luftleeren Raum und dürstet nach Desinfektionsmittel. Andreas Homokin, der Intendant des Zürcher Opernhauses, sagt: „Kultur ist ein menschliches Grundbedürfnis: Sie bedeutet für mich all das, was unser Menschsein und unser Zusammenleben letztlich ausmacht.“ Wie wichtig etwas ist, wird erst bewusst, wenn man es nicht mehr hat. Gesa Schneider, die Leiterin des Literaturhauses in Zürich, bezeichnet die Kultur als Sinn des Lebens: „Kultur bedeutet für mich, nicht zu sein, sondern das Sein zu verhandeln. Ich freue mich, wenn hier wieder Leben und Spiel und Nachdenken passiert. Und das Reden über das Leben.“

Wenn das Leben still steht, gibt es auch weniger darüber zu reden – und zu berichten. Die grossen Medienhäuser haben Kurzarbeit verordnet. Ihre Publikationen schrumpfen praktisch im Wochenrhythmus an Umfang. Vielen Journalisten geht es wie den Coiffeurs und Restaurantbetreibern: Sie fürchten um ihre berufliche Existenz.

Derweil diktiert in den Zeitungen und Zeitschriften, in Funk und Fernsehen die Tonlage der Weihnachtsfesttage. Weil nichts passiert, werden alte Ereignisse neu aufgewärmt. Rückblicke werden geschrieben und Konserven geöffnet – und Tipps für Isolationsgefahren vermittelt: Wie verhindere ich übertriebenen Alkoholkonsum? Was mache ich gegen den Quarantänekoller? Wo hole ich Hilfe bei häuslicher Gewalt? 

Das Coronavirus hat das Leben in der Schweiz verändert wie kaum ein Ereignis seit dem zweiten Weltkrieg. Jeder und jede ist betroffen: sozial, gesellschaftlich, finanziell – sportlich: Fitnesszentrums bleiben geschlossen, Velotouren sind nur noch mit den engsten Verwandten möglich, die Laufgruppe sieht sich zum potenziellen Virenherd degradiert.

So absurd es aber tönen mag: Die Volksgesundheit könnte von der aktuellen Notlage sogar profitieren. Denn kaum einmal zuvor begegnete man im Wald und in den Parkanlagen mehr bewegungsfreudigen Menschen – selbstverständlich alle im gebührenden Zweimeters-Abstand zueinander. Es scheint, die ganze Schweiz habe ihre Liebe für Outdoor-Aktivitäten entdeckt. Und Gesundheitsminister Alain Berset, früher ein ambitionierter 800-m-Läufer, bezeichnet die nationale Ausnahmesituation als „Marathon mit ungewissem Ausgang“. Dazu passt, dass Mr. Corona, der BAG-Pandemie-Experte Daniel Koch, ein leidenschaftlicher Ausdauersportler ist – und eigentlich jeden Tag so aussieht, als habe er soeben einen Ultra-Ironman und den 100-km-Lauf von Biel nacheinander bewältigt – ohne Verpflegungspause.

So oder so: Auf dem Spaziergang oder auf der Joggingrunde macht man interessante Beobachtungen. Denn das Verhalten der Mitmenschen ist nicht mehr das gleiche. Am positiven Ende die Erfahrungswerte sind die gewachsene Freundlichkeit und die netten Begrüssungen unter wildfremden Menschen. Doch es gibt auch das Gegenteil: Spaziergänger, die vor nahenden Mitmenschen in fast schon panischer Angst ins nächste Gebüsch springen, ihr Hündchen schützen in den Arm nehmen oder fluchtartig die Richtung wechseln. Auch Menschen mit Ganzgesichtsmundschutz, Plastikhandschuhen und Taucherbrille schreiten daher. Es ist, als befände man sich in einem (eher schlecht produzierten) Science-Fiction-Film. Aber spätestens wenn man in der Migros-Filiale per Lautsprecher daran erinnert wird, auf Distanz zu gehen, die Anweisungen des Personals zu befolgen und vor dem Gemüsestand die Hände zu desinfizieren, weiss man: das ganze Schlamassel ist real.

Doch vielleicht ist ja schon mittelfristig alles nur halb so wild. Denn selbst der grösste Sturm bietet eine Chance. Nach Jahren des Aufschwungs und des kollektiven Übermuts kann die Krise als Weckruf verstanden werden und die Menschen zur Rückkehr zu Demut und Respekt bewegen. Die plötzliche Ruhe lässt uns innehalten und den Blick für das wesentliche wieder finden. Wir haben wieder Zeit, um uns mit unseren Mitmenschen zu befassen – und Dinge zu erledigen, die wir vorhin in der überbordenden Hektik des Alltags gleichgültig vor uns hin schoben. Und sei es nur, das Ausfüllen der Steuererklärung.

Art Furrer, der weise Ski-Pionier und Hotelier aus dem Wallis, wählt einen philosophischen Ansatz der Lagebeurteilung: „Nun erhalten wir Zeit, um nachzudenken und um über die Bücher zu gehen.“ Es sei aber von existenzieller Bedeutung, dass man in dieser Zeit den Glauben an das Gute und die Hoffnung nicht verliere – dass man den Mut bewahre, den Mitmenschen zu helfen. Furrer zitiert den Titel des berühmten Liedes des Schweizer Jodler-Duos Marthely Mumenthaler/Vrenely Pfyl: „Nach em Räge schint Sunne, nach em Briegge wird glacht“.

Christoph Sigrist, der Pfarrer des Grossmünsters, sieht in der Krise ebenfalls Positives: „Wir erleben momentan viel Gutes miteinander – lernen den Verzicht und die Inspiration neu kennen. Die Menschen finden wieder zueinander.“ An dieser Stelle zitiert er Zwingli: „Tut um Gottes Willen etwas tapferes.“

Um diesen Gedanken nachhaltig umzusetzen, müsse aber jede und jeder etwas beitrage – vor allem in der Aufarbeitung der Ereignisse: „Ich hoffe, dass die Menschen nicht zu schnell vergessen, dass sie sich auch langfristig daran erinnern, dass Themen wie Klima, Flüchtlinge und Hunger immer präsent sind.“ Sigrist hofft, dass das stete Streben nach Überfluss abnimmt: „Es ist nicht das Geld, das giftig ist, sondern die Gier.“

Im Zoologischen Garten von Zürich sorgt das Virus ebenfalls für eine Ausnahmesituation. Durch die Schliessung gehen dem Tiergarten rund eine Million Franken pro Woche an Einnahmen verloren. Für den Tier- und Naturschutz könnte sich gleichwohl eine wichtige neue Perspektive eröffnen. Kurator Martin Bauert sagt: „Es scheint klar, dass das Coronavirus auf einem Markt in Wuhan von einer Fledermaus auf einen Menschen übergesprungen ist. Macht die chinesische Regierung nun ernst und verbiete solche Märkte, wäre das ein grosser Schritt für den Tierschutz.“ Bauert spricht von einem „Big safe.“

Ganz grundsätzlich öffnet die Krise einen neuen Blick auf die Geschehnisse und die Gesellschaft. Und sie bietet auch eine Chance, – wenn wir die Ereignisse sachlich einschätzen und neuen Mut fassen. Denn zwei Dingen stehen fest: Die Welt geht nicht unter – und es gibt ein Leben nach Corona.

Bleiben Sie gesund!

Thomas Renggli

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