Freitag, der 13. Bei der Lektüre des „Tages Anzeigers“ stockte mir der Atem. Unter den Traueranzeigen steht ein Name, den ich nie an dieser Stelle sehen wollte – der mit so viel Leben gefüllt war, dass die Nachricht des Ablebens schon fast surreal tönt: „Walter J. Scheibli – 5. März 1959 – 10. Mai 2022“. 63 Jahre – nur. Wir wussten, dass es ihm nicht gut geht. Und trotzdem macht sein Tod sprachlos.
Als ich Walti vor rund 30 Jahren kennenlernte, begegneten wir uns vor allem an zwei Orten – an zwei Orten, die für sein Leben eine prägende Bedeutung besassen: Auf den Pressetribünen von Hardturm, Schluefweg, Hallenstadion und Letzigrund – und am Mittwochmittag jeweils in der Turnhalle Sihlhölzli. Dort rannten jene Sportjournalisten ihrer verlorenen Jugend nach, die für sich eigentlich einen Platz in der Fussballnationalmannschaft einforderten, aber anstatt das Tor vor allem die Schienbeine der Gegner oder die Sprossenwand trafen.
Walti besass diesen Anspruch nicht. Dafür war er zu bescheiden und bodenständig – und vermutlich auch zu realistisch. Obwohl mit gewissen technischen Fähigkeiten gesegnet und quasi der Zico von der Steinkluppe kannte er seine fussballerischen Grenzen ganz genau. Und die lagen bei der letzten Runde im Konditionstest oder bei der höchsten Intensitätsstufe des Mittelfeldpressings. Walti war ein Fussballer mit Herzblut und Leidenschaft, aber die dritte Halbzeit fand für ihn neben dem Platz statt – dort, wo es gesellig wird und die verbalen Ausführungen grösser sind als die Taten im Spiel davor.
Als Radioreporter gehörte Walter J. Scheibli zu den Besten des Landes. Wie sein Vater war er stets einer der ersten im Stadion und akribisch vorbereitet. Gab es Kollegen, die sich erst an der Pressekonferenz vor dem Spiel über die Personalsituation erkundigten, wusste Walti immer Bescheid. Und er kommentierte punktgenau und ohne Versprecher. Ich fragte mich immer wieder, weshalb er nie den Schritt zur SRG machte. Auf einen Fachmann wie Walter J. Scheibli darf eigentlich kein nationaler Sender verzichten. Aber auch in diesem Fall gilt: Walti nahm sich nie zu wichtig. Radio 24 war der perfekte Ort für ihn. Hier konnte er sein Hobby als Beruf ausleben, gleichzeitig noch für den „Unterländer“ schreiben – und so viel Unabhängigkeit bewahren, dass er nicht jeden Morgen um 8.30 Uhr einem Chef rapportieren musste.
Walti war ein Mann der sportlichen Underdogs. Den FC Unterstrass gab es für ihn auch im Ausland. In Deutschland schlug sein Herz für 1860 München – in England kokettierte er mit Millwall – jenem Klub aus den Londoner Docklands, der die Arbeiterklasse wie kein anderer Verein symbolisiert und schon die Qualifikation für einen Sechzehntel-Final des Liga-Cups wie Weihnachten, Geburtstag und Ostern zusammen feiert.
Walter J. Scheibli war ein Zürcher durch und durch. Dazu gehörte, dass er sich (im Gegensatz zu seinem Vater) nie auf einen Klub fixieren wollte. Er freute sich für den FCZ wie für GC – bejubelte die Siege von Kloten ebenso wie jene des ZSC. Und er war auch bereit, wenn es einen Fachmann für Handball oder die 100-Kilometer-Américain am Sechstagerennen brauchte. Walter J. Scheibli gehörte der immer rareren Spezies der journalistischen Generalisten an.
Vor allem aber war er ein wunderbarer Kollege und ein guter Freund – mit einem herrlichen Sinn für (englischen) Humor. Mit kaum einem konnte man herzhafter Lachen und die Spiele an der Theke genüsslicher Revue passieren lassen. Spätestens nach dem zweiten Bier mit Walti war man sich wieder sicher: Der Sport ist die schönste Nebensache – aber er ist eben doch nur eine Nebensache. Das änderte sich höchstens, wenn die englische Nationalmannschaft ein Penaltyschiessen gegen Deutschland verlor.
Walter J. Scheibli liebte das Leben und seine lockeren Seiten – und er war immer ein geselliger und unterhaltsamer Gesprächspartner. Doch er war auch eine ernsthafte und sehr sensible Persönlichkeit. Das realisierten wir vielleicht zu spät. Als sich kurz nach Weihnachten 2018 seine Mutter Margrit in die Ewigkeit verabschiedete, ging auch ein Teil von ihm. Sein Familiengefühl war so gross, dass er den Tod seiner Mutter nie verkraftete. Immer seltener kam er in die Stadien, sein Lächeln schien wie eingefroren. Die Fröhlichkeit, die seinen Vater Walter Scheibli bis heute umgibt, kehrte beim Junior nie mehr zurück.
Am 10. Mai endete sein irdisches Dasein – auch weil es Walti vermutlich so wollte. Er hinterlässt tief betroffene Freunde und eine grosse Lücke im Sportjournalismus – aber auch die Hoffnung, dass es ihm jetzt besser geht: dort, wo die Engel zwischen den Sternen einem Ball oder einem Puck nachjagen; dort wo auch seine Mutter einen Tribünenplatz hat.
Lieber Walti – wir werden Dich nie nie vergessen. Und wir sehen uns wieder! Ruhe in Frieden.
Thomas Renggli